Entrissen
Ersatzmutter für ihn, und das erfüllte mich mit großer Befriedigung.
Mein Einsatz zielte jedoch weiterhin in erster Linie auf meine Mutti. Wenn ich mich um Sören bemühte, wollte ich damit auch ihr gefallen und ihre Gunst zurückerringen. Ich erlebte ein seltsames Paradox: Einerseits litt ich sehr unter den Einschränkungen und Anspannungen meiner Doppelrolle als Schülerin und Haushaltshilfe, andererseits war ich stolz auf meine Leistungsbilanz. Meine Mutti ließ prompt keine Gelegenheit aus, gegenüber anderen Erwachsenen meinen Fleiß zu rühmen. Das erfüllte mich mit Genugtuung, denn ich fühlte mich unentbehrlich. Allerdings auch ausgelaugt. Erschöpfung und Selbstaufgabe waren der Preis für meine Anerkennung.
Abends mochte ich meist niemanden mehr um mich haben. Am liebsten verzog ich mich in mein Zimmer, um in meinen Büchern zu schmökern. In der Leihbücherei am Puschkinplatz suchte ich mir vor allem Lesestoff aus, der am Ende eine glückliche Wendung der beschriebenen Geschichten versprach. Wenigstens beim Lesen wollte ich in einer heilen Welt verweilen. Begleitend zur Lektüre ertönte Musik aus dem Stern-Kofferradio meiner Eltern, das ich als besonderen Gunsterweis mit auf mein Zimmer nehmen durfte. Verbotenerweise und daher sehr leise hörte ich bevorzugt Bayern 3 , allerdings nicht, um Neuigkeiten aus dem Reich des Klassenfeindes zu erfahren, sondern weil mir die Musik so gut gefiel, besonders die Schlager der damaligen West-Hitparadenstürmer wie Howard Carpendale, Mary Roos oder Marianne Rosenberg.
Natürlich schätzte ich auch die Songs von Karat, Silly oder der Puhdys; ob Sozialismus oder Klassenfeind war mir egal, Hauptsache, sie sangen deutsch. Mir war es wichtig, die Texte zu verstehen. Ausländische Sprachen kamen mir schon immer irgendwie unheimlich vor. Ich fürchtete mich vor allem, was mir fremd und unbekannt vorkam und was sich damit meiner Kontrolle entzog. Englischen Liedtexten konnte ich unter anderem deshalb nicht folgen, weil ich als Einzige aus meiner Klasse das angebotene Wahlfach Englisch nicht besuchen durfte. Es stand nämlich genau zu jener Zeit auf dem Stundenplan, in der ich zu Sörens Krippe eilen musste. Außerdem lehnte Mutti die englische Sprache ohnehin als »kapitalistisch« ab. Nicht umsonst war sie Russischlehrerin.
Meine Lieblingssendung im Radio DDR II waren die Hörgeschichten und Krimis jeden Montag von 20 . 00 bis 21 . 00 Uhr. Mutti achtete streng darauf, dass ich das Gerät rechtzeitig ausschaltete, und ich hielt mich daran, denn andernfalls lief ich Gefahr, dass sie mein geliebtes Radio, für mich eine wertvolle Verbindung zur großen weiten Welt, gnadenlos konfiszierte. Gelegentlich ging sie vor das Haus, um zu kontrollieren, ob mein Fenster zur Schlafenszeit noch erleuchtet war. Wenn sie mich auf diese Weise zu später Stunde beim Lesen erwischte, pflegte sie mit einem Stock an mein Heizungsrohr zu klopfen, und ertappt löschte ich das Licht. Oft war dies nicht der Fall, denn gewöhnlich fielen mir schon vorzeitig die Augen zu.
Eines Tages, wie aus heiterem Himmel, stand Mirko wieder vor der Tür, in Begleitung eines Freundes aus dem Kinderheim. Er war dieses Mal sogar auf eigene Faust gekommen. Umso mehr freute ich mich, meinen großen Bruder zu sehen. Ich war heilfroh, mir meinen Kummer von der Seele reden zu können. Endlich hatte ich jemanden, bei dem ich mich bedenkenlos über meine Mutter und meine Mühsal beklagen konnte, während wir gemeinsam Sörens Sportkinderwagen über den mit reifen Kastanien übersäten Waldweg schoben.
Gleichzeitig bedeutete Mirkos Besuch für mich ein Dilemma. Immerhin war er der greifbare Beweis dafür, dass ich zwischen zwei Leben steckte. Solange ich diese andere Welt im Alltag ausblendete, konnte ich meinen Zwiespalt ganz gut ignorieren. Aber gerade jetzt, auf diesem Spaziergang, auf dem ich mich buchstäblich zwischen zwei Brüdern befand, spürte ich, wie schwer es mir fiel, mich in meinem Doppelleben zurechtzufinden. So gern ich Mirko um mich hatte, war mir an diesem Abend deutlich leichter ums Herz, nachdem er in sein Kinderheim zurückgekehrt und ich meiner Zerrissenheit nicht länger ausgesetzt war. Nach diesem Überraschungsbesuch habe ich ihn nicht wiedergesehen. Mag sein, dass Mutti mit einer Meldung an die Kinderheimleitung fortan die geschwisterlichen Begegnungen unterband.
Es war unübersehbar, wie gut es meinen Eltern tat, mit meinem Stiefbruder Sören nun auch ein eigenes Kind vorweisen zu
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