Entrissen
Welt um sich herum langsam entdeckte und eroberte. Ich nahm es ihm nicht krumm, wenn er einmal ein Glas fallen ließ, und freute mich über seine ersten ungelenken Strichbilder und drolligen Sätze. Er sollte von mir alles lernen, was ich ihm beibringen konnte. Wenigstens er sollte mich so kennen und lieben lernen, wie ich wirklich war.
Daher wollte ich ihn von Anfang an nicht im Zweifel darüber lassen, dass ich nicht seine leibliche Schwester war. Auch wenn der Zweieinhalbjährige bestimmt noch nicht erfassen konnte, was ich ihm da zu erklären versuchte, bemühte ich mich, meinem Brüderchen begreiflich zu machen, dass ich eigentlich eine andere Mama hatte. »Aber die ist nicht mehr da«, erklärte ich ihm, »und damit ich nicht im Heim bleiben musste, haben Mutti und Vati mich zu sich genommen.«
Natürlich hatte der kleine Racker nichts Eiligeres zu tun, als sich bei nächster Gelegenheit splitternackt vor meine Eltern hinzustellen und zu krähen: »Mama, Katrin kommt gar nicht aus deinem Bauch, sie kommt aus dem Kinderheim!« Er war sicher überzeugt, eine große Neuigkeit zu verkünden.
Mir stockte das Herz, denn ich rechnete fest mit einer heftigen Reaktion meiner Eltern. Hatten sie es doch bis dahin tunlichst vermieden, meine Herkunft offenzulegen. Adoption war ein Thema, mit dem man nicht hausieren ging. Und nun hatte der Kleine das Familiengeheimnis offengelegt. Wie naiv von mir, ihn einzuweihen!
Doch nichts geschah. Kein Wort, kein Kommentar, kein Tadel. Wieder legte sich diese betretene Stille, die ich so sehr hasste und fürchtete, wie Mehltau über unser Familienidyll. Zwar war ich in diesem Fall erleichtert, dass ich mir keine Standpauke anhören musste. Aber gleichzeitig fand ich es beklemmend, dass so beharrlich nicht über die Dinge geredet wurde, die wirklich wichtig für uns alle waren. Unter der dünnen Alltagsschicht herrschte kühles Schweigen. Es zeigte an, dass die Frage nach meiner Herkunft in meiner Familie dauerhaft auf Eis gelegt war. Ein Tabu.
[home]
17 .
I mmer tiefer verkroch ich mich im Winter 1979 in mein eigenes Nest. Als hätte die Eiszeit zwischen meiner Mutter und mir auch meinen geschwächten Körper angegriffen, wurde ich in jenem Jahr fünfmal von mehr oder weniger heftigen Mandelentzündungen heimgesucht. Erwiesen sich diese Krankheiten schon als starkes Handicap für mein seit Geburt vorbelastetes Herz, so wirkte das damals üblicherweise verabreichte Antibiotikum Berlocombin langfristig wie Gift auf meine angeschlagene Pumpe. Heute deute ich meine Herzkrankheit als Symptom für all das, was in meinem Leben damals unausgesprochen blieb.
Oma Erna war wegen ihrer Demenzerkrankung nicht mehr in der Lage, mich als Krankenpflegerin zu bemuttern, wenn die Fieberschübe mich heimsuchten. Ich fühlte mich alleingelassen und ausgeliefert. Hatte ich es anfänglich noch als Privileg genossen, mich aufs Krankenlager zurückziehen zu dürfen, begann ich allmählich, selbst eindeutige Anzeichen zu ignorieren und meine Gesundheit zu vernachlässigen. Vielleicht interpretierte ich meine Krankheiten manchmal auch als persönliche Strafe. Zudem erwartete Mutti von mir, dass ich aufstehen und wieder am Alltagsleben teilhaben sollte, sobald das Fieber zu sinken begann, da ohne meinen Einsatz zu viel Hausarbeit liegenblieb.
Selbst in den Phasen, in denen ich gesund war, fühlte ich mich innerlich krank. Ich blieb introvertiert. Meine Eltern deuteten meine Verschlossenheit wohl als Symptom der beginnenden Pubertät. So blieb für alle der Anschein von Normalität gewahrt. Wenn Mutti und ich allerdings doch einmal aneinandergerieten, waren die starken Spannungen zwischen uns nicht zu überhören.
An einem Samstag kurz vor Silvester 1979 hatte ich mein aufwendiges Putzprogramm gerade absolviert und wollte mich verdientermaßen vor der Mattscheibe niederlassen, da ging die Tür zur Wohnstube auf.
»Kannst du denn nicht auch mal von dir aus fragen, ob es noch was zu erledigen gibt, bevor du dich hier niederlässt?«, fuhr meine Mutti mich an, sichtlich genervt vom Anblick meiner Untätigkeit.
»Aber ich hab doch heute wirklich mehr als genug geschuftet«, erwiderte ich matt. Inzwischen schien nicht einmal mehr die Übererfüllung des Plansolls zu reichen. In diesem Moment kam es mir vor, als würde ihre schroffe Zurechtweisung mich buchstäblich vor Kälte erstarren lassen.
Wortlos rannte ich aus der Stube durch den Flur ins Badezimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Dort hockte ich
Weitere Kostenlose Bücher