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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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waren allein die Möglichkeit zu überleben und die Vorstellung, wie höllisch der Sturz auf die Gleise schmerzen würde. Größere Angst als vor dem Tod hatte ich vor diesem Schmerz. Ich war vielleicht bereit, mich umzubringen, aber verletzt, zerschunden oder verkrüppelt wollte ich keinesfalls enden.
    Damit war auch diese Gelegenheit verstrichen. Ich hatte es wieder nicht zum Abschluss gebracht. Niemand würde davon erfahren, wie verwüstet und öde mein Innenleben war. Ich floh aus dem Leben und scheute den Tod. Armselig. Sollten die anderen doch über mich verfügen, wie sie wollten. Mit mir hatte das alles nichts mehr zu tun. Ich hatte mich aufgegeben.
    Wie eine geprügelte, verfrorene Katze schlich ich mich zurück nach Langenberg. In einem letzten Anflug von Stolz brachte ich es aber nicht über mich, das Haus meiner Eltern anzusteuern – so als wäre nichts geschehen, als hätte ich nur ein bisschen Frischluft geschnappt. Also nahm ich meinen Mut zusammen und drückte auf den Klingelknopf meiner Tante, nur wenige Meter unterhalb des elterlichen Grundstücks. Zum Glück ging bereits beim ersten Läuten das Licht an. Tante Marianne öffnete die Tür und zog mich schlotternd und nass, wie ich war, in ihre warme Stube. Wie immer praktisch veranlagt, trocknete sie mich erst einmal, gab mir eine warme Decke und einen heißen Kakao, ohne mich gleich mit Fragen zu traktieren. Offenbar hatten meine Eltern bereits Alarm geschlagen.
    Als ich wieder etwas Lebensgeist in mir spürte, begann ich von mir aus zu berichten. Ich packte alles aus, was geschehen war. So tiefsitzend war die Demütigung dieses Abends, dass ich keine Scheu mehr verspürte. Ich erzählte offen und weinte dabei bitterlich. Meine Tante hörte einfach nur zu, und zum ersten Mal seit langer Zeit erfuhr ich ehrlich gemeinten, liebevollen Trost. Ach, wäre Tante Marianne doch meine Mutter!
    Dann aber kam auch sie mit dieser Beschwichtigungsplatte, wie sie die Erwachsenen so gerne auflegen: »Die Christel ist manchmal etwas sonderbar«, sagte sie. »Das sehen wir doch auch. Aber sie ist halt so. Jeder Mensch hat seine Eigenheiten. Damit musst du dich irgendwie abfinden.«
    Ich konnte darauf nichts erwidern.
    Behutsam forderte sie mich auf, nach Hause zu gehen. »Deine Mutti macht sich bestimmt schon mächtige Sorgen.«
    Wirklich? Ich hatte da meine inneren Zweifel. Fest stand jedoch, dass für die Lehrerin und Parteisekretärin kaum eine größere Blamage vorstellbar gewesen wäre als meine Flucht. Es wäre wie ein öffentliches Bekenntnis erschienen, dass sie an ihrem Erziehungsauftrag gescheitert war.
    Ausgelaugt und willenlos ergab ich mich dem Rat meiner Tante. Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass sie mich als ihr Kind angenommen hätte. Aber natürlich war ihr an einem guten Auskommen mit ihrer Schwägerin gelegen.
    Mein Zuhause fand ich in tiefem Winterschlaf versunken vor. Der Schneefall hatte nicht aufgehört und gab dem Anwesen einen friedlichen, unberührten Anblick. Das Knirschen meiner Turnschuhe auf dem Weg durch den Vorgarten war das einzige Geräusch. Ich hoffte inständig, mich zu dieser späten Stunde irgendwie unbemerkt ins Haus schleichen zu können. So geräuschlos wie nur möglich drehte ich den Schlüssel im Schloss, tapste dann auf leisen Sohlen die Treppe hoch, warf meine durchnässten Kleidungsstücke auf den Boden und schlüpfte direkt ins Bett. Unter meiner Bettdecke kauerte ich mich wie ein Embryo zusammen. Ich wollte nichts weiter als schnellstmöglich einschlafen und diesen schrecklichen Abend hinter mir lassen.
    Aber da hörte ich Schritte auf der Treppe, und kurz darauf kam Mutti vorsichtig in mein Zimmer. Sie knipste das Licht an und sagte – nichts. Keine Bemerkung, keine Frage. Ich muss heute noch weinen, wenn ich an diese schreckliche Wortlosigkeit denke, an unsere lähmende Unfähigkeit, miteinander zu reden.
    Stattdessen versuchte sie mich etwas unbeholfen in die Arme zu nehmen, doch ich entzog mich ihrem Griff. Es erschien mir alles hoffnungslos, zu spät und irgendwie falsch. Ich konnte diese Nähe nicht zulassen. Merkwürdig: Jetzt, da sie mir auf ihre Art jene Zuneigung zeigen wollte, die ich sonst so sehnsüchtig begehrte, konnte ich sie nicht annehmen. Ähnlich wie seinerzeit im Kinderheim, als ich die tröstende Umarmung der Heimleiterin verweigerte, obwohl ich sie so bitterlich vermisste. Aber irgendwie glich ich einem streunenden Hund, der ständig um die fütternde Hand herumstreicht und gleichzeitig

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