Entrissen
Schweigen verfiel. Mir gab sie dadurch zu verstehen, dass ich in eine verbotene Zone vorgedrungen war. Ich hatte wohl an ein Geheimnis gerührt, das sonst streng gehütet wurde. Ich hatte ein Tabu gebrochen. Ihre schroffe Art stand in einem heftigen Gegensatz zu der vorweihnachtlichen Stimmung, die durch viele Fenster schimmerte.
Ich wusste schlichtweg nicht, was ich da ausgelöst hatte. Wahrscheinlich, so überlegte ich, hatte ich sie als Adoptivmutter gekränkt, weil ich mich so interessiert nach meiner leiblichen Mama erkundigt hatte. Vielleicht hatte sie gehofft, dass meine Vorgeschichte für mich keine Bedeutung mehr haben würde und ich meine ursprüngliche Mutter längst vergessen hätte. Mit ihrer Zurückweisung erreichte sie nun aber genau das Gegenteil. Meine Mama war mir von da an nur noch präsenter und ging mir gar nicht mehr aus dem Sinn. Was hatte sie damals getan? Gab es neben ihrem fürsorglichen, warmherzigen Charakter, dessen Erinnerung ich mir in meinem Herzen bewahrt hatte, noch einen anderen Wesenszug, den ich nicht kannte? Betrachtete meine Adoptivmutter Mama als unangenehme Konkurrenz, oder wollte sie mich vor der Wahrheit schützen? Hatte sie Angst, dass ich ihr eines Tages entgegenhalten könnte: »Du hast mir nichts zu sagen. Du bist gar nicht meine Mutter!«?
Wieder nagten Schuldgefühle an mir. Vielleicht wäre meine Mama damals unbehelligt geblieben, wenn ich nicht gewesen wäre? Eine meiner spärlichen Erinnerungen an unseren letzten gemeinsamen Tag war die Ohrfeige, die auf meiner Seele schmerzhafte Spuren hinterlassen hatte. Aber kann ein Kind etwas so Schlimmes anstellen, dass die eigene Mutter es gleich für alle Zeit loswerden will? Oder war ich ein derart schwieriger Fall, dass ich ohne staatliche Erziehung nicht zu bändigen war? Statt einer Antwort hatte ich jetzt noch mehr Fragen als zuvor. Nur leider gab es weit und breit niemanden, dem ich sie hätte stellen können.
Trotzdem ließ ich mir mein Mutterbild nicht zerstören. Nein, meine Mama war kein schlechter Mensch. Die Erwachsenen logen, wie sie es brauchten. Jeder hatte seine eigene Wahrheit, und meist diente sie nur ihren eigenen Zwecken. Sobald es dann unangenehm wurde, schwiegen sie. Sicher legte meine Adoptivmutter es mit ihren Seitenhieben nur darauf an, meine Mama schlechtzumachen, um selbst besser dazustehen. Ich beschloss, ihr nie wieder eine Frage zu stellen, die mich so viel Überwindung kostete und mir am Ende nichts als Unannehmlichkeiten einbrachte. Die direkte Folge meines Vorstoßes war eine Eiszeit, die mehrere Wochen andauerte. Im Jahr 1979 wurde mir die kälteste Weihnacht beschert, die ich in diesem Haus je erlebt hatte.
Heute habe ich den Eindruck, dass die Gefühlskälte meiner Mutti gar nicht unbedingt ihrem inneren Wesen entsprach. Vaterlos in Kriegs- und Notzeiten aufgewachsen, sah sie sich offenbar einem selbstauferlegten Leistungsdruck ausgesetzt, die äußere Ordnung und Disziplin aufrechtzuerhalten. Was sie sich abverlangte, erwartete sie fraglos auch von anderen. Ihre persönlichen Gefühle mussten dahinter zurückstehen. Dabei entging mir keineswegs, dass sie sehr wohl Zuneigung für mich empfand, aber sie brachte es nur in seltenen Momenten über sich, mich ihre Verbundenheit spüren zu lassen. Wie ein Korsett schien der selbstgestellte Auftrag, mich zu einer für die sozialistische Gesellschaft wertvollen Persönlichkeit zu formen, ihre innersten Gefühle zu drosseln. Auch ich lernte in dieser Atmosphäre, meine ureigenen Befindlichkeiten zu verbergen und dabei reibungslos zu funktionieren.
Statt an den Weihnachtsfeiertagen in der Küche die Geschirrberge abzuarbeiten, hätte ich allerdings gerne mitbekommen, was unsere Besucher an der Kaffeetafel zu erzählen hatten. Seit Onkel Karl tot war und Oma Erna in zunehmender geistiger Verwirrtheit vor sich hin dämmerte, blieben mir in der Verwandtschaft nur noch Tante Marianne und ihr Sohn Michael, denen ich mich anvertrauen konnte. Allein, zu ändern vermochten sie meine Lage auch nicht. Die beiden Enkelinnen meiner Köstritzer Oma bekam ich nur während unserer seltenen Ausflüge dorthin zu Gesicht. Auch ihnen mochte ich bei diesen Anlässen meinen Kummer nicht offenbaren. Haltung zu bewahren, das Gesicht nicht zu verlieren, war für mich oberstes Gebot.
Da ich meinen Eltern mit persönlichen Anliegen nicht zu kommen brauchte, schenkte ich meinem kleinen Brüderchen, was ich an Zuneigung aufbrachte. Ich war ganz begeistert, wie er die
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