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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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ich die Haustür hinter mir zu. Wie eine Diebin schlich ich mich in einer dünnen Jeansjacke und mit Stoffturnschuhen aus dem Haus, das mein Zuhause hätte sein sollen. Als ich die frostige Luft in meine Lungen sog, fühlte ich mich etwas besser, freier. Nie zuvor hatte ich unser Einfamilienhaus verlassen, ohne meinen Eltern Bescheid zu geben, wohin ich ging. Noch immer hielt das winterliche Treiben an, meine dünnen Fußstapfen im frischen Schnee waren sicher bald wieder zugeschneit, die Spuren meiner Flucht flugs verweht.
    Auf einmal wusste ich auch, wohin ich wollte. Genau genommen war es die einzige Anlaufstelle, die für mich überhaupt in Frage kam. Ich musste zu Mirko. Nur mein Bruder konnte vielleicht verstehen, was in mir vorging. Ihm konnte ich mich anvertrauen. Er würde sich etwas einfallen lassen, um zu verhindern, dass ich gleich zurückgeschickt werden würde, so hoffte ich. Ich betrachtete ihn noch immer als meinen Beschützer. Dummerweise wusste ich nicht mehr, wo genau sich sein Kinderheim befand. Auf jeden Fall musste ich erst einmal in die Innenstadt.
    In der Dämmerung lief ich den Berg hinab und dann entlang der Buslinie ins Zentrum. Die Stadt lag zunehmend unter einer dichten Schneehülle begraben. Eiskristalle glänzten im Licht der Straßenlaternen, und für einen Moment fühlte ich mich in das Märchen von der Schneekönigin versetzt. Wie diese kam mir meine Adoptivmutti vor, und ich sah mich in der Rolle von Kai, dessen Herz durch einen frostigen Splitter zu Eis erstarrt war.
    Ich spürte kein Gefühl mehr in mir drin und auch nicht die Kälte auf meiner Haut. Die Straßen waren dem Winter ausgeliefert, Menschen ließen sich nur vereinzelt blicken. Wer nicht dringend etwas zu erledigen hatte, zog sich in den Schutz der eigenen vier Wände zurück. Ich kam mir vor wie auf einer Expedition in die Ungewissheit – und zugleich auf der Flucht. Nun musste ich weiter, ich hatte keine andere Wahl. Der Gedanke, einfach kläglich umzukehren, war mir unerträglich. Das Empfinden meiner tiefen Einsamkeit wechselte mit ohnmächtiger Wut auf die schweigsamen Menschen um mich herum, die mir ihre Liebe zu verwehren schienen.
    Nach einem schier endlosen Marsch erreichte ich die Uferanlagen entlang der Weißen Elster. Hier musste das Heim irgendwo sein. Bloß wo? Irgendwie sah alles so gleich aus. Jedes der schneebedeckten Häuser meinte ich schon einmal gesehen zu haben, trotzdem stellte sich kein Ortsgefühl ein. Fragen konnte ich niemanden, denn während der Feiertage wirkten die Straßen wie ausgestorben. Außerdem hätte ich mich dann gleich auf dem nächsten Polizeirevier melden können. Ein zwölfjähriges Mädchen um diese Stunde und bei diesem Wetter war ohnehin schon auffällig genug.
    Sehnlichst wünschte ich mir, dass Mirkos Heim plötzlich vor mir auftauchen möge, aber die Gegend erschien mir immer finsterer und unbekannter. Ach, wäre er jetzt doch bei mir! Er hätte bestimmt eine Idee. Ich schlitterte durch den Schneematsch, immer wieder rutschten mir die Füße weg, und ich verlor den Halt. Bald taten mir die Beine von der Anstrengung weh. Meine Turnschuhe trieften vor Nässe, meine Nase tropfte und jetzt kamen Tränen dazu. Tränen der Wut und der Verzweiflung. Wo sollte ich jetzt noch hin? Es gab keine Anlaufstelle mehr für mich. Nur eines wusste ich mit Bestimmtheit: nach Hause auf gar keinen Fall.
    Wie erloschen wankte ich suchend weiter. Innerlich hatte ich die Hoffnung längst aufgegeben, das Kinderheim noch zu finden. Ich bewegte mich nur noch, um nicht stehenzubleiben, um der Kälte zu entfliehen. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr weiter. Heftig atmend rang ich nach Luft und klammerte mich ans Geländer der Brücke, die sich über die Eisenbahntrasse von Gera spannte. Ich konnte nicht ahnen, dass Mirkos Kinderheim nur einen Steinwurf von hier entfernt war. Unter mir zog eine Diesellok eine schwarze Spur durch die frische weiße Schneeschicht. Ich spürte die Tiefe, spontan drängte sich ein Gedanke auf: Und wenn ich mir jetzt bloß noch diesen einen winzigen Ruck gebe? Ein schneller Schwung über das Geländer, ein kleiner Sprung nur – und alles wäre überstanden. Was habe ich zu verlieren? Wer würde mich vermissen? In diesem Moment, das sehe ich heute noch deutlich vor mir, hatte ich mit meinem Leben abgeschlossen. Ich hing nicht mehr an meiner erbärmlichen Existenz. Ich war vollkommen fertig, alleine, verloren – bereit, das Elend zu beenden.
    Was mich abhielt,

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