Entrissen
Nur eine Kugel oder eine Kerze hier und da in den Auslagen deutete darauf hin, dass Weihnachten unmittelbar vor der Tür stand.
In der Schlange vor der Fleischertheke traf Mutti prompt auf eine Frau, die sie kannte, und vertiefte sich sogleich in einen angeregten Plausch mit ihr, eine Situation, die für Kinder für gewöhnlich an Langeweile kaum zu überbieten ist. Unvermeidlicherweise musste ich wieder einmal als Vorzeigeobjekt herhalten. »Das ist meine Große«, betonte meine Adoptivmutter. »Haben wir aus ihr nicht ein prächtiges Mädchen gemacht?« Während sie mich solchermaßen pries, wechselten die Frauen Blicke, die mir merkwürdig erschienen. Offenkundig war beiden bei aller Lobhudelei bewusst, dass es sich bei mir um keine »richtige« Tochter handelte. Ich verspürte einen kleinen Stich und grübelte darüber nach, warum ich niemals einfach selbstverständlich dazugehörte. Als wir nach einigen weiteren Erledigungen aus dem Postamt auf die Einkaufsstraße traten, nahm ich all meinen Mut zusammen. Ohne Vorrede und Umschweife brachte ich die Frage über die Lippen, die mich schon so lange quälte.
»Was ist eigentlich mit meiner richtigen Mama?«, fragte ich im Gehen. Endlich war es heraus. Die Antwort war – Schweigen. Offensichtlich hatte Mutti mit allem gerechnet, aber nicht damit.
Ich stierte krampfhaft auf den Boden vor mir, weil ich Angst hatte, sonst in ihren Augen Schmerz oder einen Ausdruck von Lüge zu bemerken. Doch auch ohne sie anzusehen, spürte ich, dass ihr Blick ebenfalls starr geradeaus gerichtet war, dass ihr offenbar bange zumute war. Das peinliche Gefühl, das ich den ganzen Weg über mit mir herumgetragen hatte, lastete jetzt auf ihr. Ich konnte mir vorstellen, wie es in ihr arbeitete, wie sie sich wand und überwinden musste. Schlagartig bereute ich, sie überhaupt gefragt zu haben. Ich hatte mir mehr Klarheit erhofft, aber irgendwie wirkte sie nur getroffen und verletzt.
Unangenehm berührt, das Gesicht krampfhaft von mir abgewandt, rang sich Mutti nach einer kleinen Ewigkeit dann doch zu einer Erklärung durch. »Na ja, deine Mutter ist eben lieber feiern und tanzen gegangen, als sich um euch zu kümmern. Und sie hatte öfter mal Männerbesuch …« Nach einer kurzen Pause fügte sie, wie zur Rechtfertigung ihrer Anklage, hinzu: »Deshalb seid ihr ins Heim gekommen.«
Nun war ich endgültig verwirrt, denn ich konnte den vollen Gehalt ihrer Aussage noch gar nicht erfassen. Wie sollte das alles zusammenpassen? Die Erzieherin im Kinderheim hatte mir doch erzählt, dass meine Mama eine Staatsverräterin gewesen sei und deshalb im Gefängnis saß. War sie eine Staatsverräterin, weil sie überführt worden war, sich zu wenig um ihre Kinder zu kümmern? Aber in diesem Fall hätte meine Mama doch nicht den Staat, sondern höchstens uns, ihre Kinder, verraten? Oder stimmte das alles gar nicht – wie schon so oft? Obwohl mein Kopf nur so schwirrte, stellte ich keine dieser Fragen. Mich hatte der Mut verlassen, und um jeden Preis wollte ich der unangenehmen Situation ausweichen, neuerlich angelogen zu werden, wofür ich, so klein ich war, ein ganz gutes Gespür besaß.
Ich durchpflügte noch einmal meine Erinnerungen: Meine Mama sollte also gern gefeiert haben? Ich konnte mich daran beim besten Willen nicht erinnern. Oder etwa doch? Ja, manchmal waren in der Tat noch andere Leute in unserer Wohnung gewesen. Hatte sie mit denen Feste gefeiert, während wir schliefen? Spielte Mutti auf Mamas Aushilfstätigkeit als Bedienung in einem Tanzcafé an, wenn sie von tanzen sprach? Hatte Mama dort andere Männer kennengelernt? Stand darauf Gefängnis?
Muttis Antwort hatte unzählige neue Fragen für mich aufgeworfen. Ich hätte so gern alles gewusst und hatte zugleich Angst davor, dass die Wahrheit unangenehm werden könnte. Daher beschränkte ich mich darauf, leise vor mich hin zu murmeln: »Wo ist sie jetzt?«
Die Erwiderung kam dieses Mal ohne jegliches Zögern. »Weiß ich nicht!«
Es war nicht das Eingeständnis, sondern die Art, wie Mutti die Worte ausgestoßen hatte, die mich zusammenzucken ließ. Mich fröstelte. Immer wieder mal war mir diese Gefühlskälte in ihrem Wesen begegnet, aber so kühl hatte sie mich noch nie abserviert. Ich spürte auch, dass Mutti mehr zu wissen schien, als sie vorgab, und dass sie damit hinterm Berg hielt.
Dann merkte sie wohl selbst, dass ihre Antwort etwas zu schroff ausgefallen war. Sie rang noch einmal nach Worten, bevor sie endgültig in
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