Entrissen
kugelrunde Kuppel des Fernsehturms ein, der als Wahrzeichen unserer Republik über dem Alexanderplatz aufragte. Noch nie hatte ich die Welt auf diese Weise von oben betrachten können. Erst jetzt bekam ich eine Ahnung von der Weitläufigkeit Berlins. Dass sich durch diese Stadt eine Sperranlage zog, die zwei komplett verschiedene Welten voneinander trennte, war aus luftiger Höhe nicht zu erkennen. Aus der Vogelperspektive unterschieden Ost und West sich nicht voneinander.
Zurück auf dem Boden, sprachen wir uns bei einer Tasse Kaffee an einem Imbissstand in der Rathauspassage aus. »Wenn ich gewusst hätte, dass es für dich das erste Mal war«, räumte Tommi ein, »dann wäre ich bestimmt rücksichtsvoller vorgegangen.« Aus seinem eher zögerlichen Schuldeingeständnis hörte ich so etwas wie Verständnis für meine Wahrnehmung heraus. Ich freute mich, dass wir nach den belastenden Irritationen wieder zum Gespräch gefunden hatten und hatte den Eindruck, dass sich damit der schale Nachgeschmack unserer ersten Begegnung verlor. Indem er meine Verunsicherung ernst nahm, trug Tommi erheblich zur Ehrenrettung der Gattung Mann bei, die ich bis dahin eher als aufdringlich und egomanisch erlebt hatte.
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23 .
D ie versöhnlich stimmende Erfahrung mit meinem ersten Liebespartner war zugleich ein Motiv, zu Olaf wieder Verbindung aufzunehmen, als ich zurück zu Hause war. Beim Sortieren der langsam nachlassenden Zuschriftenflut auf meinen Leserbrief im Oktober 1985 wurde mir erst richtig bewusst, dass unser Kontakt zwischenzeitlich abgerissen war. Also beschloss ich, Olaf ein letztes Mal mit einem provozierenden Brief aus der Reserve zu locken. Jeder Mensch verdient das Recht auf eine zweite Chance, dachte ich mir, auch er. Die Antwort kam postwendend: Mit etwas abenteuerlichen Begründungen (»Du bist für mich halt so begehrenswert«) entschuldigte sich mein Brieffreund nochmals sich für sein Verhalten während seines Besuchs bei uns und unternahm einen weiteren Versuch, mich kurzfristig zu sich nach Binz einzuladen. Ich sollte ihn zu seinem bevorstehenden Regimentstreffen begleiten.
Ein kühner Vorschlag, denn dort würde ich nicht nur seine private Kammer mit ihm teilen, sondern zugleich quasi als seine offizielle Begleiterin bei der Feier im Kreise seiner Kameraden in Erscheinung treten. Da ich ohnehin so kurzfristig nicht dienstfrei bekam, musste ich meinen Verehrer erneut vertrösten. Dennoch hatte er mit seiner Einladung bei mir den entscheidenden Nerv getroffen: mein Fernweh. Schließlich ließ ich mich überreden, zu Silvester, wenn ich nach dem weihnachtlichen Schichtbetrieb ein paar Tage freibekommen würde, nach Rügen zu reisen. Zum ersten Mal sah ich die verlockende Aussicht vor mir, das neue Jahr am Ostseestrand zu begrüßen, statt zu Hause die obligatorischen Bowle zum langweiligen Fernsehprogramm zu servieren.
Zugleich wollte ich es Olaf nicht zu leicht machen und warnte ihn daher vorbeugend: »Sobald du mich erneut bedrängst, fahre ich sofort nach Hause!« Olaf bemühte sich nachhaltig, mich seiner besten Absichten zu versichern, und so saß ich am 29 . Dezember 1985 im Zug nach Rügen. Natürlich träumte ich auf der beinahe zwölfstündigen Fahrt noch nicht von der Trauung, aber im monotonen Takt der Eisenbahnräder wiederholten sich in meinem Kopf die immer gleichen Worte: Nichts wie weg – möglichst weit weg! Selbst wenn dieser Ausflug die erstbeste Gelegenheit war, so bot er doch auch eine Chance. Die Chance meines Lebens. Sollte das Abenteuer schiefgehen, beruhigte ich mich, konnte ich die Expedition jederzeit ohne Verlust abbrechen. Außerdem glaubte ich, diesen Mann nach unserem ausgiebigen Briefwechsel inzwischen besser zu kennen.
Olaf hatte ersichtlich seine Lektion gelernt, denn am Bahnhof von Binz nahm er mich mit spürbarer Zurückhaltung und Höflichkeit in Empfang. Im Schatten der Dunkelheit geleitete mein Gastgeber mich zu einem neuzeitlichen Plattenbau, wo er im vierten Stock über eine Einraumwohnung verfügte.
»Herzlich willkommen in meinem bescheidenen Reich«, sagte er und gewährte mir den Vortritt.
Die Kammer mit dem angrenzenden Flur und einem Bad war in der Tat eher spartanisch eingerichtet. Das Mobiliar beschränkte sich auf zwei Sofas, eines davon zum Bett ausziehbar, einen Holztisch, ein antikes Bücherbuffet und eine Kochnische. Auf den ersten Blick erkennbar, hatte der Junggeselle seine Stube aufgeräumt, gewischt und auf Hochglanz poliert.
»Hast du
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