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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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keine Entsprechung auf der Gefühlsebene hatte. Trotz aller Ernüchterung reute mich die Erfahrung dieser ersten Nacht nicht. Ich betrachtete mich jetzt als Frau, vollwertig und reif. Damit fühlte ich mich gewappnet, den Mann meines Lebens kennenzulernen.

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    22 .
    E in aussichtsreicher Kandidat für diese Rolle gelangte etwas verspätet in den Kreis meiner Briefpartner. Olaf, fünf Jahre älter als ich, hatte meine Frage in der
Armeerundschau
erst nach mehreren Monaten zu Gesicht bekommen. Jetzt antwortete er umgehend, ganz linientreu, aber in einem angenehm anmutenden Duz-Stil. »Ich würde es begrüßen«, befand er als Offizier, »wenn du dich als Frau um den Dienst in der Armee bemühen würdest.« Auch wenn sich für mich das Thema zu diesem Zeitpunkt längst erledigt hatte, fühlte ich mich von ihm verstanden und bestärkt.
    Das Unwiderstehlichste an meiner neuen Brieffreundschaft war jedoch die Adresse auf dem Kuvert. Olaf war als frischgebackener Leutnant in einem Regiment des Militärtransportwesens in Prora stationiert. Er wohnte im nahe gelegenen Binz, dem bekannten Seebad auf der Ostseeinsel Rügen. Eben erst hatte er die Offiziersschule der Nationalen Volksarmee in Löbau absolviert und war als Politoffizier für die weltanschauliche Schulung der Reservisten zuständig. Allein sein Standort verströmte für mich, ohne ihn näher zu kennen, den wunderbaren Klang von Meer, Weite und Strandurlaub. Eine größere Entfernung zu meiner Heimatstadt war innerhalb unserer kleinen, überschaubaren Republik kaum denkbar.
    Auch Olaf schien Gefallen an mir zu finden, und bald schrieben wir uns im Tagestakt. Da seine Eltern ebenfalls in Thüringen, genauer in Arnstadt, lebten, schlug er vor, mich während eines Heimataufenthalts besuchen zu kommen. Mutti, die ich einweihen musste, war sogar damit einverstanden, dass er zum Mittagessen zu uns nach Hause kam. Für mich war damit einer neuerlichen Hotelzimmererfahrung ein Riegel vorgeschoben.
    Der erste Eindruck von meinem Gast auf dem Bahnsteig dämpfte meine Erwartungen indes ein wenig. Obwohl Olaf mit seinen eins dreiundachtzig und den breiten Schultern eine stattliche Erscheinung verkörperte, dachte ich bei seinem Anblick spontan: Schreiben kannst du aber besser, als du aussiehst. Das wird keine Liebe auf den ersten Blick.
    Der dreiundzwanzigjährige Offizier trug keine Uniform, sondern war mit den obligatorischen VEB -Jeans, einem beigefarbenen T-Shirt und ausgetretenen Sandalen ausgesprochen leger gekleidet. In der Hand hielt er einen Strauß Pfingstrosen, die er offenbar noch schnell im Garten seiner Eltern für mich gepflückt hatte. Er hatte kurze dunkelbraune Haare und braune Augen; eine kleine Narbe an der Augenbraue gab seinem Gesicht einen sympathischen Zug. Seine Beine und auch sein Gang wirkten etwas krumm, später sollte ich erfahren, dass dies von einem chronischen Meniskusleiden herrührte. Ich spürte eine leise Enttäuschung, als wir auf dem Weg zu unserem Haus in der Trambahn Allgemeinplätze austauschten. Aber mein Realitätssinn sagte mir, dass ein Phantasiebild, wie es beim Briefeschreiben entsteht, für gewöhnlich nie der Wirklichkeit entspricht. Meine Wunschvorstellung schrumpfte auf ihre real existierende Entsprechung zusammen.
    Daheim warteten meine Eltern schon auf den Besucher. Mutti übertraf sich mit übergroßer Herzlichkeit förmlich selbst, Vati zeigte sich wie üblich freundlich, aber distanziert. Mir blieb die gewohnte Funktion der Hausfrau vorbehalten. Während Mutti sich in ihrem Küchenkittel aus der damals gebräuchlichen DDR -Kunstfaser Dederon als tüchtige Hausfrau präsentierte und sich vorbehielt, ihren Porree-Eintopf (den ich im Übrigen hasste) selbst zuzubereiten, durfte ich Gemüse schnippeln, Geschirr abwaschen und den Tisch decken. Vati, in seiner üblichen robusten Heimarbeitskluft, war unterdessen bemüht, mit Fragen zu Olafs Armeedienst ein Gespräch in Gang zu bringen. Doch mit Aussagen, die Geheimhaltungsvorschriften berühren konnten, hielt sich der Offizier spürbar zurück.
    Ohne jedes Anzeichen eines unguten Gefühls fläzte er auf der Eckbank an unserem Küchentisch und sah mir genüsslich und untätig dabei zu, wie ich die Suppenteller füllte. »Ich mag’s gern deftig«, bemerkte er, als Kompliment auf Muttis Kochkünste gemünzt. Doch hinter seinem Rücken verdrehte selbst die Adressatin seines Lobs die Augen wegen dieser Paschahaltung. Ich spürte, wie Muttis anfängliche Sympathie für ihn

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