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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Behr , Peter Hartl
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leise es ging, hinkte ich durch den Kellereingang und suchte in der Waschküche nach einer alten Wanne, um in meinem Zimmer das verletzte Bein hochlegen zu können. Es dauerte nicht lange, bis Mutti in mein Zimmer stürzte, um sich lautstark über mein spätes Nachhausekommen aufzuregen. Zum Glück verfügte ich mit meiner Blessur über eine plausible Erklärung, und sie gab sich damit zufrieden. Um den Zustand meines Beines kümmerte sie sich allerdings nicht. Wieder war es mein Vater, der mich am nächsten Morgen ins Krankenhaus fuhr. Ich verließ es mit einem Gipsverband wieder.
    Die Bandage bot mir einen mehr oder weniger willkommenen Vorwand, Olafs Avancen erst mal abzuweisen. Er musste ja nicht wissen, dass ich mich gleichwohl in der Lage sah, eine Einladung nach Berlin anzunehmen. Meine Cousine Diana, die Tochter von Muttis Bruder, hatte mich bei ihrem alljährlichen Besuch in Gera eingeladen, sie während der Semesterferien in der Hauptstadt der DDR zu besuchen. Die Chance ließ ich mir auch von meinem Gipsfuß nicht nehmen.
    Für mich symbolisierte Berlin die große, weite Welt. Der Alexanderplatz erschien einer Provinzpflanze wie mir als überdimensionaler Markt der Möglichkeiten. Unzählige Menschen flanierten über dieses Areal, auf dem wie ein Symbol des kosmopolitischen Geistes die große Weltzeituhr thronte. Überall sah ich fremdländische Gesichter, sogar Menschen aus Asien und Afrika, und hatte das Gefühl, mich im Zentrum einer richtigen Metropole zu befinden. Alles war ungleich weltläufiger und großzügiger als daheim in Gera. Selbst die Sommerkleidung der Passanten kam mir moderner und eleganter vor. Besonders attraktiv aber fand ich, dass hier niemand war, der mich kannte und mir mit vorgeprägten Vorurteilen begegnete. Die Anonymität der Großstadt, die manch anderer beklagte, wirkte auf mich faszinierend.
    Meine sieben Jahre ältere Cousine kümmerte sich rührend um mich. Sie brachte mir bei, auf weiße T-Shirts mit grellen Farben und einer besonderen Knotentechnik bunte Muster zu batiken. Mit einigen wenigen Handgriffen verstand sie es, kunstvolle Accessoires zu fertigen, die ich todschick und modisch fand. Anfangs war ich unsicher, ihr zur Hand zu gehen, weil ich seit Kinderheimtagen außerhalb des Unterrichts nie mehr kreativ tätig gewesen war. Doch nach kurzer Eingewöhnung fand ich großen Spaß an diesem Kunsthandwerk.
    Diana hatte ein sicheres Stilempfinden und einen selbstbewussten Modegeschmack; der Typ Frau eben, der selbst in einen Lumpensack gehüllt noch blendend aussieht. Beim Anblick ihres großstädtischen Erscheinungsbildes kam ich mir wie das graue Mäuschen vom Land vor. Sie war zierlich, schlank und sportlich, spielte ausgezeichnet Tennis, hatte halblange dunkelbraune Haare und ein gewinnendes Wesen. Ihr Ökonomiestudium in Dresden hatte die frischgebackene Mutter eines Sohnes erfolgreich abgeschlossen und lebte mit ihrem ebenfalls sehr sympathischen Lebensgefährten in einer Altbau-Zweiraumwohnung im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain.
    Meine Adoptivmutter hatte nie ein Hehl daraus gemacht, wie sehr sie alles bewunderte, was Diana unternahm. Ich hatte stets den Eindruck, dass meine Mutti gern selbst so eine Tochter gehabt hätte und ihrer Nichte generell mehr Glauben schenkte als mir. Wenn sie nur einmal von ganzem Herzen stolz auf mich wäre, hatte ich gelegentlich gedacht. Ich mochte und bewunderte Diana trotzdem ungemein, und unser Verhältnis war nie durch Neid getrübt. Schon der große Altersunterschied verhinderte jede unmittelbare Rivalität. Für mich glich sie eher einer älteren Schwester, ein kleiner Ersatz für meinen leiblichen Bruder, den ich weiterhin vermisste.
    Den Ausflug in die Hauptstadt der DDR nutzte ich auch zu einem kühnen Vorhaben: Schon im Vorfeld der Reise hatte ich den angehenden Arzt Tommi, der inzwischen wieder in seiner Heimatstadt weilte, angeschrieben und gefragt, ob wir uns treffen könnten. Ich hatte das Bedürfnis, mit ihm und dem, was zwischen uns geschehen war, ins Reine zu kommen.
    Tommi wirkte überrascht, überhaupt noch einmal von mir zu hören, stimmte aber einem Treffen zu und wollte auf mich an der Weltzeituhr warten. Das Haar trug er inzwischen nicht mehr soldatisch kurz. Er stand unmittelbar davor, sein Medizinstudium anzutreten, und machte auf mich einen weit weniger angespannten Eindruck als bei unserer ersten Begegnung.
    Im Gestus des erfahrenen Großstädters lud er mich zu einer kleinen Exkursion in die

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