Entrissen
als weiteren Beweis dafür, dass ich nicht bloß einer romantischen Laune zum Opfer gefallen war.
Sooft es ging, trachteten wir danach, uns in die Arme zu schließen. Trotz der großen Distanz, die zwischen uns lag, gelang uns dies jedes zweite oder dritte Wochenende. Mir war bereits damals bewusst, dass diese zeitlich befristeten Begegnungen nicht genügen konnten, einen bis vor kurzem noch wildfremden Menschen wirklich kennenzulernen und einschätzen zu können. Wir trafen einander unter Schönwetterbedingungen, die vom Alltagsgeschehen vollkommen losgelöst waren. Nur gelegentlich kam Olaf zu Besuch in seine alte Heimat; meist war ich diejenige, die den weiten Weg auf sich nahm.
Doch diese Fernreisen waren bald in Gefahr, denn irgendwann waren meine Ersparnisse vollständig aufgebraucht, und meine Mutti sah es nicht ein, unseren Liebestourismus auch noch zu subventionieren. »Wenn er sie sehen will, soll
er
die Fahrt doch bezahlen«, sagte sie in meiner Anwesenheit zu Vati. Der schien eine derart fordernde Haltung indes eher peinlich zu finden und konnte es diesmal durchsetzen, dass ich erstmals und einmalig fünfzig Mark von meiner obligatorischen Haushaltsabgabe als Reisegeld behalten durfte.
Jedes Mal, wenn mein neuer Freund im Haus meiner Eltern zu Gast war, spürte ich die Prüfungsatmosphäre. Ich kannte meine Eltern gut genug, um zu wissen, dass Olaf unter ihrem kritischen Blick kaum Chancen auf ihre Gunst hatte. Aber statt auch nur einmal seine Mithilfe anzubieten, ließ er sich meistens in den Sessel fallen und stand erst wieder auf, wenn die Arbeit getan war. Bei seinen Schwiegereltern in spe fiel er damit in Ungnade.
»Das gebietet allein der Anstand, dass er wenigstens mal fragt, ob’s was zu tun gibt«, empörte Mutti sich, als Olaf gerade nicht im Raum war.
Vati ergänzte grimmig: »In so einem Haus ist immer genug zu erledigen, im Garten, im Hof – auch als Gast.«
Trotzig nahm ich meinen trägen Kavalier in Schutz. »Der Olaf ist halt mehr so der Theoretiker, für praktische Dinge hat er kein Händchen.«
Umgekehrt tat es mir unglaublich gut, wenn mein Freund für mich Partei ergriff. Als wir einmal zu einem Spaziergang aufbrechen wollten und meiner Mutti in diesem Moment reflexartig einfiel, was alles im Haushalt noch nicht erledigt sei, gab er ihr nachdrücklich zu verstehen, was er davon hielt.
»Katrin ist jetzt alt genug, sie kann selbst beurteilen, wann sie ihr Pensum erledigt«, sagte Olaf entschieden.
Das ging mir runter wie Öl. Da war tatsächlich ein Mensch, der meiner Adoptivmutter Paroli bot und offen für mich eintrat. Auch das war eine seltene Erfahrung. Mein Begleiter hatte Mut, er war mein Fürsprecher, und ich liebte ihn dafür.
Die Zurechtgewiesene indes war sichtlich irritiert ob der deutlichen Worte. »Wir sind eine Familie, und da muss eben
jeder
seinen Teil beitragen«, erwiderte sie pikiert und betonte ihre Replik so, dass sie deutlich als Kritik an Olafs notorischer Untätigkeit zu verstehen war.
Sein Prestige steigerte der Hausgast jedenfalls durch sein forsches Auftreten nicht gerade.
Das begann sich erst zu ändern, als Mutti im Gespräch eine spontane Eingebung kam. »Willst du nicht bei deinem nächsten Besuch mal in unserer Schule vorbeikommen und den Schülern von der Nationalen Volksarmee berichten?«, fragte sie den überzeugten Politoffizier.
Olaf wirkte geradezu geschmeichelt. Einige Wochen später trat er tatsächlich in seiner NVA -Uniform vor die neunten Klassen, um offiziell für die Armee zu werben. Der Leutnant, den die Lehrerin den Schülern bereits als ihren künftigen Schwiegersohn präsentierte, schien bei ihr einen ganz anderen Eindruck zu hinterlassen als der unhöfliche Hausgast auf dem heimischen Sofa. Hier war er nicht der Störenfried im Hausordnungsregime, sondern eine Vorzeigefigur der gemeinsam verehrten, wehrhaften Republik.
Diese Aufwertung meines Freundes in den Augen meiner Mutter wirkte sich freilich nur wenig lindernd auf mein Verhältnis zu ihr aus. Bisweilen kam es mir vor, als bestünde der Hauptreiz dieser Fernbeziehung für mich darin, Muttis ständiger Überwachung zu entkommen. Allerdings beschränkte sich auch mein Liebhaber nicht auf anteilnehmende Neugier, wenn ich ihm meinen Alltag schilderte, sondern begann bereits Besitzrechte anzumelden. Als ich einmal absichtslos einen Abend im Jugendclub erwähnte, fragte er in schneidendem Ton zurück: »Mit wem triffst du dich denn dort?«
Irritiert von seinem
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