Entrissen
’ne Putzfrau kommen lassen?«, fragte ich scherzhaft und zugleich beeindruckt. »Ich wusste gar nicht, dass Männer in der Lage sind, selbständig sauber zu machen.«
Überdies hatte der Hausmann sich die Mühe gemacht, eine kleine Tanne in einem Pflanzenkübel mit bunten Kugeln zu verzieren. Selbst im Miniaturformat erweckte das Bäumchen sofort jene Weihnachtssentimentalität in mir, die ich mir aus Kindheitstagen bewahrt hatte.
Dieses Gefühl hielt den gesamten Willkommensabend über an. Gemeinsam improvisierten wir ein nettes Abendessen mit Spaghetti und ein paar Gläsern Wein bei Kerzenschein, während Peter Maffay, als Westsänger sonst eher verpönt, aus den Lautsprechern trällerte. Nach dem Essen setzte ich mich vorsichtshalber in deutlichem Abstand zu Olaf auf die Couch gegenüber seinem Sofa. Angeregt durch die Mischung aus Rotwein, Musik und Romantik schmolz dieser Abstand aber rascher als die Kerze dahin. Bald lag mein Kopf auf seinem Schoß, er strich mir übers Haar und meinte verträumt: »Dich heirate ich mal!«
Auf einen Schlag war ich wieder nüchtern. »Du kennst mich doch noch gar nicht!«, empörte ich mich.
Er blieb beharrlich. »Ich hab mich total in dich verliebt. Dich heirate ich eines Tages!«
Ich hielt das für ein Hirngespinst, aber natürlich schmeichelte mir sein Versprechen. Sofort wurden Wunschbilder wach: Heirat, Familie, Binz – alles fern von daheim. Wie ein Freier alter Schule legte Olaf mir irgendwann eine silberne Kette mit einem Herzchen um den Hals, und spätestens damit war mein Widerstand gebrochen. Seit meiner Kindheit hatte ich nie mehr etwas Persönliches, das keinen praktischen Nutzwert hatte, geschenkt bekommen. Der Kavalier hatte den richtigen Schalter umgelegt. Ich war vollkommen gerührt, fasste Vertrauen zu ihm und begann zu glauben, was er in seinen vielen Briefen beteuert hatte: dass er mit seinen Gefühlen, seinem Begehren wirklich
mich
meinte.
Diesmal wollte er alles richtig machen. Er ging vorsichtig mit mir um, sachte und ganz entspannt. »Wenn du nicht willst«, hauchte er mir ins Ohr, »brauchst du es nur zu sagen.«
Aber ich wollte, mein Herz pochte, und ich war aufgeregt wie vor der Hochzeitsnacht. An jenem Abend machte ich die für mich völlig neue Erfahrung, dass körperliche Liebe einfühlsam sein kann. Seine Zärtlichkeiten garnierte mein Liebhaber mit fortgesetzten Liebesschwüren, die mich wie Drogen berauschten. »Meine Süße« nannte er mich immer wieder, und ich war selig.
Selbst am nächsten Morgen packte mich kein Katergefühl. Vom Liebespfeil getroffen, turtelten wir wie Täubchen. Das neue Jahr begrüßten wir zusammen mit Olafs Jugendfreund und dessen Frau in deren Wohnung. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor einen solch hoffnungsfrohen und vielversprechenden Jahreswechsel erlebt zu haben. Ich fühlte mich frei und geborgen zugleich.
Natürlich entgingen mir die seltsamen Wesenszüge meines Verehrers trotz akuter Verliebtheit nicht. Bei aller Freude stimmte es mich als grundsätzlich skeptischen Menschen misstrauisch, dass er gleich beim ersten Treffen von Heirat sprach. Sein schier unstillbares Begehren erschien mir denn doch etwas zu heftig. Auf anderen Sektoren neigte er dagegen nicht zu übertriebener Leistungsbereitschaft. Wenn ich mich des Haushalts annahm, rührte er selbst keinen Finger und ließ mich gerne gewähren. Frisch verliebt, wie ich war, nahm ich jeden Abstrich am Idealbild eines perfekten Partners leichthin in Kauf, mit dem stets gleichen Trost: All das ist immer noch besser als zu Hause!
Als ich einige Tage später wieder in Gera eintraf, sah ich mich in genau dieser Erkenntnis erneut bestätigt. Das Erste, was ich von meiner Adoptivmutter zu hören bekam, als ich ihr freudig von meiner Eroberung berichtete, war: »Muss das sein? Bei dieser Entfernung!« Nach meinem berauschenden Ausflug fiel mir umso deutlicher auf, wie sehr ich in diesem Haushalt ein Fremdkörper war. Die Missverständnisse häuften sich wie Stolpersteine zwischen uns. Mehr denn je spürte ich die permanente Bevormundung, und beinahe alles, was ich tat oder sagte, stieß auf Ungnade.
Je unwohler ich mich zu Hause fühlte, desto verlockender erschien mir der Gedanke an einen neuen, eigenständigen Lebensabschnitt mit einem Gefährten, der – welch beglückende Entdeckung – Interesse und Gefallen an mir fand. Und das offenbar langfristig. Kaum zwei Tage vergingen, an denen wir uns nicht lange Briefe schrieben. Ich nahm dies
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