Entrissen
meiner großen Erleichterung.
Neben meinem Klinikdienst und der Hausarbeit verbrachte ich fortan täglich jede verfügbare Minute an ihrem Krankenbett, wusch sie, fütterte sie und gab ihr die notwendigen Spritzen, wobei mir meine Berufsausbildung zugutekam. Ich glaube, es gab in all den Jahren keine Zeit, in der ich mich meiner Mutti so nahe fühlte wie in dieser Phase ihres Klinikaufenthalts. Vielleicht war es gerade ihre offenkundige Hilfsbedürftigkeit, ihre Abhängigkeit von meiner Unterstützung, die die Eisschicht zwischen uns schmelzen ließ. Sie selbst wirkte wie verwandelt. Sie tadelte mich nicht, machte mir keine Vorhaltungen und Vorschriften, im Gegenteil: Wenn sie mit ihren Bettnachbarinnen oder den Ärzten sprach, fand sie nur lobende Töne für mich, und ich nahm ihr ab, dass sie unsere Verbundenheit zu schätzen wusste. Wenn sie auf mich angewiesen ist, dachte ich mir, kann sie sogar richtig nett sein.
Zu Hause hatte ich dafür nicht nur wieder den Haushalt und meinen Bruder Sören zu versorgen, sondern auch die Handwerker zu beaufsichtigen, die ausgerechnet in diesem Sommer unser Dach neu deckten. Gleichzeitig galt es, die Früchte unserer Obstbäume zu ernten, bevor sie verdarben, um Marmelade einzukochen. Dabei hätte ich in diesem Sommer für die Abschlussprüfung nach dem Ende des zweiten Studienjahres an der Schwesternschule büffeln sollen. Aber das war mir alles zu viel. Ich konnte mich einfach nicht auf die vielen Fachbegriffe in den Lernheften konzentrieren und gleichzeitig für das obligatorische Russisch-Diplom pauken. Wann immer ich einen Versuch unternahm, nickte ich meistens übermüdet über meinen Büchern ein.
Die Folge war absehbar. In der Physiologieprüfung erreichte ich gerade noch eine Vier, in der Gesamtwertung eine Drei – keine Traumvorlage für den weiteren Berufsweg. Aber ich hatte nur noch den Wunsch, diese Welt möglichst bald hinter mir zu lassen. Selbst das Angebot eines Lehrers, die Prüfung zu wiederholen, um meine Note zu verbessern, lehnte ich ab – mit Ausnahme des russischen Sprachdiploms, das ich später nachholte. Ich war froh über den Abschluss, mit welcher Note auch immer. Ich wollte endlich einen Schlussstrich unter Schule, Theorie und Lernstoff ziehen.
Als Mutti nach über einem Vierteljahr, den ganzen Oberkörper in einen, wie wir sagten, Kosmonautengips gehüllt, heimkam, kehrten auch die gewohnten Befehlsstrukturen wieder. Was sich in den letzten Wochen zaghaft an Zuneigung zwischen uns aufgebaut hatte, schien rasch aufgebraucht. Die Anspannung meiner Mutti wurde durch das Gipskorsett verstärkt, das sie erheblich in ihrem Bewegungsdrang einschränkte und an erholsamem Schlaf hinderte. Selbstredend machte ihr Unfall auch meine Hochzeitspläne zunichte. Die Trauung musste deswegen vom Sommer in den Spätherbst verlegt werden, und unglückseligerweise wählten wir dafür den 14 . November. In der gereizten Stimmungslage hatte ich glatt übersehen, dass Mutti an diesem Tag Geburtstag hatte.
Die Entscheidung zur Heirat war aus der Vernunft heraus geboren, bei Olaf genauso wie bei mir. Ich sah darin meine einzige Chance, auf Dauer und zudem möglichst weit von Gera wegzukommen. Das romantische Gefühl der frischen Verliebtheit würde sicher schnell verfliegen, darüber machte ich mir keine Illusionen. Doch die Ehe bot mir eine realistische Perspektive, mein Dasein als Adoptivkind endlich hinter mir zu lassen. Olaf seinerseits benötigte als Offizier eine Frau an seiner Seite, weil dies sein Prestige bei der Armee erhöhte.
So mühte er sich nach Kräften, mir die Hochzeit schönzureden. In der DDR galt die Trauung als Eintrittskarte in eine neue Selbständigkeit, denn die Ehepartner erlangten in vieler Hinsicht größere Unabhängigkeit von ihren Eltern. Sie hatten einen Anspruch auf ein staatliches Darlehen, das sich durch Kindersegen noch erhöhte, und auf die Zuteilung einer geräumigen gemeinsamen Wohnung.
Olaf wollte allerdings nicht nur eine Ehegattin vorweisen, sondern eine über alle Zweifel erhabene Genossin. Stets trachtete er danach, das von ihm verlangte Plansoll möglichst überzuerfüllen. Wenige Wochen vor unserer geplanten Eheschließung nahm er mich daher beiseite und legte mir nahe, in die SED einzutreten. »Das musst du doch verstehen! Wie sieht das denn für mich als Berufsoffizier aus, wenn meine Gattin sich weigert, der Partei beizutreten? Da wird sofort nachgefragt, ob es vielleicht Zweifel gibt an deiner und damit auch an
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