Entscheide dich, sagt die Liebe
bis nach Amerika führten. Doch nach einem Unfall blieben zwei seiner Finger steif, und Schlomo konnte nicht mehr spielen. Er kehrte nach Wien zurück, heiratete Esther, seine Jugendliebe, und begann zu unterrichten. Obwohl er als sehr streng galt und nicht immer sehr geduldig mit seinen Schülern umsprang, wurde er zu einem gefragten Geigenlehrer, der nur die Begabtesten aufnahm.
In den Dreißigerjahren wehte der Wind plötzlich rauer. Antisemitische Tendenzen nahmen zu und als 1938 der Anschluss an Hitlerdeutschland erfolgte, wurden Juden offen angefeindet. Nach und nach verlor Schlomo die meisten seiner Schüler. Sie wurden von ihren Eltern aus dem Unterricht genommen. Von manchen aus Überzeugung, von anderen aus Furcht vor dem Regime. Nur wenige hatten die Courage, ihre Kinder weiterhin zur Geigenstunde zu schicken. Unter ihnen waren die Prachenskys. Im September 1939 wurden Verwandte von Schlomo von der SS abgeholt. Von dem Augenblick an war ihm klar, welches Schicksal ihm und Esther blühte. Innerhalb weniger Tage bereiteten sie ihre Flucht vor. Georg Prachensky, der nicht nur die Schränke, Tische und Betten der Rosenblatts gezimmert hatte, sondern auch ein Freund der Familie war, nahm die beiden auf. Sie versteckten sich auf dem Dachboden der Tischlerei. Mehr als fünf Jahre lang wohnten Schlomo und Esther in dem engen und muffigen Versteck, das nur über eine Deckenklappe zu erreichen war. Tagsüber mussten sie sich vollkommen still verhalten, damit niemand Verdacht schöpfte, weder die beiden Angestellten noch irgendwelche Kunden, die überraschend in die Werkstatt kamen.
An dieser Stelle unterbrach Clara Jims Redefluss und hakte nach. Wie denn die Prachenskys gewesen waren, wollte sie wissen. Vor allem Leo. Ob sein Großvater ihm von Leo erzählt habe.
»Und ob!«, sagte Jim. Sein Großvater habe in dem Jungen immer sich selbst gesehen. Wie er als einziger Musiker in eine Familie von Kaufleuten hineingeboren war, so war Leo der älteste Spross einer alteingesessenen Handwerkerfamilie, die mit schönen Künsten nichts am Hut hatte. Sein Vater erlaubte ihm zwar das Geigenspiel, erwartete aber, dass er die Werkstatt übernehmen würde. Doch Leo hatte nur Interesse für Musik, und er war unglaublich talentiert. Leider fehlte den Eltern das Verständnis dafür, zum Unterschied von Schlomos Familie. Und sosehr die Prachenskys Schlomo schätzten, es gelang ihm nicht, sie davon zu überzeugen, dass Leo als Tischler unglücklich werden würde, weil er nun mal ein geborener Musiker war.
»Leo war sein begabtester Schüler«, sagte Jim. »Und der willensstärkste. Einen richtigen Dickkopf hat Opa ihn genannt. Kurz vor seinem Tod hat er einmal ein Konzert im Radio gehört. Es war eine Sinfonie von Brahms, dirigiert von Leo Prachensky. Ich muss damals elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein und erinnere mich gut daran, weil mein Opa Tränen in den Augen hatte. Und das war ein seltener Anblick. ›Ich wusste, dass er es schaffen wird‹, hat er immer wieder gemurmelt. ›Wenigstens einer, der sich vom Krieg nicht unterkriegen ließ.‹«
Clara musste lächeln. Ja, willensstark war ihr Vater gewesen. »Was ist eigentlich passiert, dass Schlomo und Esther doch noch ins KZ gekommen sind? Ist das Versteck aufgeflogen?«
Jim tauchte kurz aus dem Bild, als suchte er etwas. Dann hielt er ein schmales Büchlein in die Kamera. »Das sind Opas Tagebuchaufzeichnungen aus Theresienstadt. Darin hat er sich darüber Gedanken gemacht. Fest steht, dass die SS einen Hinweis bekommen haben muss. Am 4. Januar 1945 sind sie zu fünft in der Tischlerei aufgekreuzt und haben Opa und Esther abgeholt. Sie wussten genau, wo sie suchen mussten. Leos Eltern wurden verhaftet, auch die beiden Angestellten.«
»Dann hat also jemand verraten, dass die Prachenskys Juden verstecken?«
»Genau. Opa hat nie herausgefunden, wer. Er vermutete, dass es ein missgünstiger Nachbar war, der irgendetwas Verdächtiges beobachtet hatte.« Jim zupfte an seinem Ohrläppchen. »Einer der SS-Männer, die Opa abführten, riss sich seine wertvolle Guarneri-Geige unter den Nagel. ›Sie müssen ein schlechter Lehrer gewesen sein, dass Ihr eigener Schüler Sie ans Messer liefert‹, sagte er zu Opa.«
Clara zuckte zusammen. »Wen hat er damit gemeint? Meinen Vater oder einen anderen Schüler?«
»Gemeint war Leo. Aber keine Sorge. Natürlich war das völliger Unsinn. Opa hat es nie geglaubt. Leo hat ihn geliebt, die Geigenstunden waren ihm heilig. Niemals
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