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Entscheide dich, sagt die Liebe

Entscheide dich, sagt die Liebe

Titel: Entscheide dich, sagt die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siri Goldberg
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von Jim Rosenblatts Mail empfand, machte sich auch die Müdigkeit bemerkbar. Das Gewicht ihrer Glieder zog sie nach unten, das Bedürfnis, sich fallen zu lassen, wurde immer stärker. Am liebsten wäre sie einfach so sitzen geblieben, gehalten von Danieles Armen und den Kopf an seine Schulter gelegt. Natürlich ging das nicht, er hätte es womöglich falsch verstanden. Als sie sich endlich von ihm löste, sah sie den Fleck, den ihre nassen Wangen auf seinem T-Shirt hinterlassen hatten.
    Wie peinlich! Sie entschuldigte sich.
    Er sagte nichts, lächelte nicht, sah sie nur aus seinen Kaffeeaugen an, die immer so ernst schauten und ein bisschen melancholisch. Außerdem waren sie bodenlos wie die Brunnen in alten Märchen. Wer zu lange hineinstarrte, lief Gefahr, über den Rand ins Unendliche zu stürzen. Zum Glück wandte Daniele seinen Blick ab. »Ich muss gehen, Clara.«
    Sie nickte. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
    Als er sie zum Abschied auf die Wange küsste, drehte sie versehentlich den Kopf, und der Kuss landete auf ihrem Mund. Es war nur eine kurze Berührung. Ihre glatten auf seinen rauen Lippen für weniger als einen Sekundenbruchteil. Der Geschmack von frischen Haselnüssen wie ein flüchtiges Versprechen. Der Beginn eines Staunens, das hinter ihren Lippen wohnte und durch ihr Zurückzucken abrupt unterbrochen wurde. Sie wollte sich entschuldigen, wollte erklären. Aber kein Ton verließ ihre Kehle. Dafür schoss Hitze in ihr Gesicht und ließ die Ohrläppchen pulsieren.
    »Freunde?«, brachte sie nach einer gefühlten Ewigkeit heraus.
    Danieles Gesicht schien zu einer Maske zu gefrieren. »Freunde«, nuschelte er, drehte sich um und ging.
    Durch das Küchenfenster sah sie, wie er den Motor startete, das Boot losmachte, sah seine Silhouette schnell kleiner werden. Noch lange blickte sie auf den dunklen Fleck am Horizont, der ihn verschluckt hatte.
     
    Am nächsten Morgen fühlte Clara sich wie gerädert. Zuerst hatte sie ewig nicht einschlafen können, dann hatte sie wirres Zeug geträumt und dabei ihr Nachthemd nass geschwitzt. Sie versuchte, den Traum abzurufen. Ein Geiger war darin vorgekommen, der wie ein Jedi-Ritter ausgesehen und Beethovens Kreutzersonate viel zu schnell gespielt hatte. Sie erinnerte sich auch an Rosenblätter, an einen nicht enden wollenden Kuss und Männerhaar, das nach Baumharz, Seetang und Oregano roch. Nur an das Gesicht des Geküssten erinnerte sie sich nicht mehr. Gut so. Sie hatte wirklich andere Sorgen, als Traumbildern nachzuhängen.
    In der Küche bereitete sie sich einen Espresso zu, der so stark war, dass sie ihn nur mit zwei Stück Zucker trinken konnte. Dann setzte sie sich ans Klavier, aber sie brachte bloß oberflächliches Geklimper zustande und klappte schon nach zehn Minuten den Deckel wieder zu.
    Obwohl es zu früh war, fuhr sie den Laptop hoch, um auf keinen Fall zu verpassen, wenn Jim Rosenblatt sie anskypte. Es war furchtbar still, nur die Uhr tickte lauter denn je und viel zu langsam. Irgendwann rief Paolo an, um zu sagen, dass er gegen Abend zurückkommen würde.
    Sonst passierte nichts.
    Am Nachmittag war es endlich so weit. Ein glucksendes Geräusch kündigte einen Skype-Anruf an. »Jimro calling« leuchtete am Bildschirm auf. Clara stürzte an den Computer und klickte auf das grüne Telefonsymbol.
    »Hi, Clara«, vernahm sie eine fröhliche Männerstimme. »Nice to talk with you, eh?«
    Das Bild, das die Webcam ihr vermittelte, zeigte einen Mittvierziger mit Augen, die an Winnetou erinnerten oder besser gesagt an Claras Vorstellung von einem Apachenhäuptling. Jims langes Haar fiel bis über seine Schultern, ein keckes Bärtchen an Kinn und Oberlippe ließ ihn verschmitzt aussehen.
    Clara musste ihn nicht lange bitten. Er erzählte ausführlich von seinem Großvater. Sie erfuhr, dass die Rosenblatts eine angesehene Kaufmannsdynastie gewesen waren, die schon seit vier Generationen in Wien gelebt hatte. Ein Zweig der Familie betrieb Kaffeehäuser, einer verkaufte Schuhe, ein dritter stellte Süßigkeiten her. Allesamt waren sie ausgesprochen wohlhabend. Schlomo war das schwarze Schaf aus dem Zweig der Schuhverkäufer. Er interessierte sich nicht für Handelsbilanzen, sondern für alles, was mit Kunst zu tun hatte, insbesondere aber für Musik. Mit fünf bekam er seine erste Geige, und ab diesem Zeitpunkt gab es für ihn nichts anderes mehr. Schon in jungen Jahren brachte er es zu einem international gefragten Geigenvirtuosen, dessen Tourneen ihn

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