Entscheide dich, sagt die Liebe
seinem inneren Auge ablief … Gestern hatte Paolo ihn um einen Gefallen gebeten. Da er die Dekoration des Festsaals beaufsichtigen musste, konnte er Clara nicht abholen. Er schickte Daniele zum Flughafen. Und Daniele tat ihm den Gefallen gern. Als er Claras helles Haar aus der Gruppe der Ankömmlinge herausleuchten sah, schlug sein Herz schneller. Er hasste sich für diesen Gefühlsausbruch, der ebenso kindisch wie hoffnungslos war. Bestimmt würde sie enttäuscht sein, dass er sie an Paolos Stelle abholte.
Aber sie wirkte nicht enttäuscht. Als sie ihn erkannte, blitzte etwas in ihren Augen auf. Freude? Erleichterung? Oder nur ein Lichtreflex? Ihre Wangen schimmerten rosig, Vancouver hatte ihr gutgetan. Sie erzählte von Jim Rosenblatt, seiner Frau, dem Jazzcafé und der mitreißenden Musik, die die Rosenblatts mit ihren Freunden dort machten.
»Sie mögen mich«, sagte sie. »Trotz allem, was mein Vater verbrochen hat.« Das Grün ihrer Augen leuchtete wie das sonnendurchflutete Blätterdach einer Linde, wenn man auf dem Rücken liegend in die Baumkrone blickte. »Ich bin so froh, dass es jetzt keine Geheimnisse mehr gibt.« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. »Und ich bin dir so dankbar. Ohne dich würde ich immer noch im Trüben fischen.« Ihre Iris verdunkelte sich. Das sonnenbeschienene Lindenblättergrün wandelte sich in nächtliches Lagunengrün.
Wie gern hätte Daniele sich in das tiefe Wasser gestürzt! Stattdessen hasste er sich zum zweiten Mal. Reiß dich zusammen, dachte er und kniff sich in den Oberschenkel. Um die plötzliche Stille zu überbrücken, erzählte er von Paolo und seinen akribischen Vorbereitungen. »Du wirst den Palazzo nicht wiedererkennen. Das wird das prächtigste Fest, das die altehrwürdigen Gemäuer der Ca’ Minotti je beherbergt haben.«
Zu sehen, wie das Blut aus ihren Wangen floh und ein kalkweißes Gesicht zurückließ, erschreckte ihn. Sie fasste sich an die Schläfen, als wäre ihr schwindlig.
»Was hast du?«
»Angst.« Sie griff nach seiner Hand, klammerte sich daran fest. »Angst, das Falsche zu tun.«
Plötzlich war ihr Gesicht so nah, dass er doch noch kopfüber in die schwarzgrünen Fluten der Lagune fiel. Wie es passieren konnte, wusste er nicht, aber auf einmal berührten sich ihre Lippen. Sein Gehirn verwandelte sich in Watte. Als hätte er beim Reinigen eines Bildes zu viel Lösungsmittel eingeatmet. Die Fingerspitzen waren eisig, und sein Magen fühlte sich an wie mit kochendem Leim gefüllt. Er wollte Clara festhalten, ihren Atem trinken und ihren Duft mit jeder Pore seines Körpers aufsaugen. Ihre Lippen antworteten, indem sie sich an seine schmiegten, nicht nur einen Sekundenbruchteil lang wie bei ihrem ersten Kuss, der eigentlich ein verunfalltes Wangenküsschen war und ein allzu abruptes Ende gefunden hatte. Nummer zwei dauerte mindestens elf Herzschläge lang und schmeckte nach einem Versprechen. Als Daniele seine Lippen öffnete, um es einzulösen, sah er auf einmal Paolo vor sich, den lachenden Paolo, den verliebten Paolo, den vor Stolz platzenden Paolo, der die Ca’ Minotti in ein Blumenmeer verwandelte. Er spürte, dass das Versprechen falsch war. Seine Lippen fühlten sich plötzlich rau an. Viel zu rau und rissig für ihren Anemonenmund. Er löste sich so ruckartig von ihr, dass sie zwei Schritte zurücktaumelte.
»Entschuldige«, murmelte er und sein Gesicht brannte ebenso heftig, wie ihres sich mit Röte überzog. In diesem Augenblick hasste er sich zum dritten Mal.
Während der Fahrt nach Venedig sprachen beide kein Wort. Clara stand an der Reling und starrte in die Gischt. An der Anlegestelle der Ca’ Minotti sprang sie grußlos an Land. Daraufhin hatte er das Boot in Rekordzeit gewendet und war davongebraust, um nur Paolo nicht zu begegnen, dessen Blick er nicht ertragen hätte. Nun fragte er sich, ob Paolos Distanziertheit mit dem unheilvollen Kuss zu tun hatte. Ahnte er etwas? Hatte Clara den Fauxpas gebeichtet? Verdammt, es hätte nie passieren dürfen! Immer wieder suchte er Paolos Blick, doch der wich ihm aus, hatte keine Zeit für ihn, schäkerte stattdessen mit den anwesenden Damen, zumindest mit denjenigen, die die siebzig noch nicht überschritten hatten.
Kaum hatte das Salonorchester sein Schlagerpotpourri mit Veronika, der Lenz ist da beendet, betrat Paolo das Podium. Die Musiker spielten einen Tusch, im Saal kehrte Stille ein.
»Verehrte Gäste, liebe Freunde!«
Jetzt musste Clara jeden Moment erscheinen. Und
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