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Entscheidung aus Liebe

Titel: Entscheidung aus Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Navin
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verantwortlich machen, wenn mir die Wahrheit nicht gefällt."
    „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Euer Gnaden." Der Mann zögerte, bevor er weitersprach. „Wie Ihre Mutter mir sagte, haben Sie offenbar in letzter Zeit unter starken Belastungen gestanden, Euer Gnaden. Ich bin beruhigt, dass Ihr Urteilsvermögen nicht unter der Anstrengung gelitten hat."
    „Es war nicht so dramatisch. Ich war nur sehr beschäftigt."
    „Aber würden Sie mir zustimmen, dass Sie in letzter Zeit ungewöhnlich reizbar waren?"
    Jareth spürte, dass sich der Arzt jetzt nicht mehr lediglich für den Gesundheitszustand der Mädchen interessierte. Daher wählte er seine Antwort mit Vorsicht. "Ich glaube, ich habe bei mehreren Gelegenheiten mein Missfallen zum Ausdruck gebracht. Dennoch bin ich immer noch der Meinung, dass ich in diesen Fällen Recht hatte."
    Der Doktor wirkte nachdenklich. „Teilen Sie die Ansicht Ihrer Mutter, dass Miss Pesserat entlassen werden sollte?"
    Jareth antwortete nicht.
    Der Mann fuhr ungerührt fort. „Sagen Sie mir, leiden Sie manchmal unter Migräne? Gibt es Tage, an denen Sie äußerst aufgebracht oder auch melancholisch sind?
    Hören Sie bisweilen seltsame Geräusche?"
    Jareth sah ihn scharf an. „Geräusche?"
    „Vielleicht Stimmen?"
    Unter dem Tisch ballte Jareth die Hände zu Fäusten. „Über was zum Teufel sprechen Sie überhaupt? Wollen Sie etwa andeuten, dass ich verrückt bin?"
    „Gewiss nicht, Euer Gnaden. Aber wie ich feststelle, reagieren Sie auffallend leicht zornig und hinterfragen misstrauisch meine Motive. Diese Paranoia ist Besorgnis erregend ... "
    „Paranoia?"
    „Können Sie manchmal nur schwer Ihre Wutausbrüche unterdrücken, Euer Gnaden? Verleihen Sie Ihren Gefühlen oft in dieser Weise Ausdruck?"
    Jareth blickte den Arzt herablassend an. „Hat meine Mutter Sie geschickt, um mich zu untersuchen? Wenn es sich so verhält, können Sie ihr versichern, dass ich mich bester geistiger Gesundheit erfreue. Falls sie diese Tatsache bezweifelt, sollte sie die Angelegenheit persönlich mit mir besprechen. Für mich ist diese Konservation beendet, Doktor." Jareth stand auf und verließ den Raum. Nachdem er einen warmen Wollmantel angezogen hatte, verließ er das Haus. Sobald er ins Freie trat, schlug ihm die eiskalte Winterluft entgegen. Er begab sich geradewegs zum See.
    Das zugefrorene Gewässer brachte alte Erinnerungen zurück, an ihn, Charles und einige der Dorfkinder. Sie waren schreiend und lachend über das Eis geschlittert. Er und sein Bruder hatten oft miteinander gerauft, und damals hatte sich niemand
    über ihr unzivilisiertes Benehmen beschwert.
    Während er am Ufer im Schnee stand, erinnerte er sich auch an einen anderen Tag, als sie schon einige Jahre älter gewesen waren. Jareth schloss die Augen und versetzte sich in diese Zeit
    zurück. Es war Frühling, und der See trat wegen der vielen Regenfälle bereits über seine Ufer. Die beiden Brüder fuhren in dem kleinen Boot hinaus, das sie manchmal von dem kleinen Steg stahlen. Sie gerieten in einen heftigen Streit über irgendeine unwichtige Meinungsverschiedenheit. Charles versetzte seinem jüngeren Bruder eine Ohrfeige, und Jareth wehrte sich natürlich. Ihr Ringkampf brachte das Boot zum Kentern, und plötzlich fanden sie sich im Wasser wieder. Zuerst war dies kein Grund zur Besorgnis für Jareth, da sie beide erfahrene Schwimmer waren. Doch dann sah er, wie Charles zweimal unterging.
    Er tauchte unter, packte seinen Bruder und zog ihn hinauf an die Oberfläche. Nachdem er ihn zurück an das Ufer geschleppt hatte, standen sie dort und hielten sich in den Armen. Beide weinten, als sie erkannten, was beinahe geschehen war. Auf einmal begann Charles, Unsinn zu reden. Jarvis, der Stallmeister, entdeckte die tropfnassen Brüder und hörte, was Charles sagte.
    Jareth öffnete die Augen. Plötzlich wurde er sich des kalten Windes bewusst, der eisig über sein Gesicht streifte, und er fand sich in der Gegenwart wieder.
    Die Worte seines Bruders trieben ihm heute noch die Tränen in die Augen, und das Atmen fiel ihm schwer. Charles konnte einfach nicht gemeint haben, was er an diesem Tag gesagt hatte.
    Jareth hatte es damals nicht verstanden, auch nicht später. Als Charles allmählich zu einem Mann gereift war, der die Verantwortung seines Geburtsrechtes übernahm, und Jareth seinen eigenen Weg fern der Familie gefunden hatte, war die Erinnerung an jenen Tag mit der Zeit verblasst. Er hatte es einfach damit abgetan, dass die

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