Entscheidung in Gretna Green
auf den Sprecher zu konzentrieren. „Oder ich breche Ihnen alle Knochen.“
„Auch sein Verstand scheint zu funktionieren“, stellte die Stimme triumphierend fest.
Endlich lichtete sich der dichte Nebel, und Hawthorn konnte wieder klar sehen. Der Mann neben dem Bett war ein untersetzter beleibter Kerl mit Hakennase und einer altmodischen Perücke, der so eigenartig aussah, dass Hawthorn kurz glaubte, er sei ein weiteres Trugbild seiner Wahnvorstellungen.
Plötzlich hielt der Kerl ihm seine Hand nah ans Gesicht. „Wie viele Finger sehen Sie?“
„Drei.“ Am liebsten hätte er ihm in die Finger gebissen, gab sich aber mit einer schneidenden Entgegnung zufrieden. „Lassen Sie mich gefälligst zufrieden.“
„Meine Untersuchungen sind fast fertig, Mr. Greenwood. Ich bitte Sie nur noch um einen Augenblick Geduld.“
„Beeilen Sie sich“, knurrte Hawthorn. „Wenn Sie mich andauernd stoßen und an mir zerren, werden meine Schmerzen nicht besser. Geben Sie mir lieber etwas zu trinken, ich habe schrecklichen Durst.“
Eigentlich merkwürdig, stellte er fest, denn an das Letzte, woran er sich mit einiger Klarheit erinnern konnte, war sein Sturz kopfüber in eisiges Wasser.
„Trinken?“ Der Mann schien Hawthorns Bitte abzuwägen, dann drehte er sich über die Schulter und nickte nach hinten. „Das wird ihm kaum schaden. Er hat offenbar keine inneren Verletzungen.“
„Gott sei Dank.“ Felicity reckte den Hals und bedachte Hawthorn mit einem zuversichtlichen Lächeln, das allerdings nicht über ihre dunklen Augenringe und ihr bleiches Gesicht hinwegtäuschen konnte. „Was raten Sie, Doktor? Einen Schluck Portwein?“
Abwehrend hob der Arzt die Hand. „Kein berauschendes Getränk, da er gerade erst zu Bewusstsein gekommen ist. Kaffee wird ihn beleben.“
„Ich lasse sofort welchen bringen.“ Sie verschwand hinter den Behängen der Bettpfosten.
Als der Arzt sich wieder über ihn beugte, wich Hawthorn zurück. Aber diesmal griff er nur nach seinem Handgelenk.
„Halten Sie still, ich will Ihren Puls fühlen.“ Mit der anderen Hand zog der Arzt seine Taschenuhr hervor, die an einer langen Kette um seine Leibesfülle hing.
Nach einer Weile ließ er das Handgelenk des Patienten wieder los. „Wie erwartet. Der Puls schlägt schon kräftiger.“
Felicity trat wieder neben den Arzt. „Gottlob.“
Der nickte. „Er ist in guter körperlicher Verfassung und wird sich rasch erholen. Sagen Sie, Mr. Greenwood, was ist Ihre letzte Erinnerung, bevor Sie hier aufwachten?“
Hawthorn öffnete den Mund, dann zögerte er.
Er hatte einen Mann gekannt, der nach einem Schlag auf den Kopf das Bewusstsein verloren hatte. Nach dem Erwachen konnte er sich nicht mehr an Dinge erinnern, die sich bereits drei Tage vor dem Unfall ereignet hatten.
Die Ärzte hatten Freunde und Angehörige des Mannes gewarnt, nicht von diesen Tagen zu sprechen oder den Versuch zu machen, seinem Gedächtnis nachhelfen zu wollen.
Was würde geschehen, wenn Hawthorn vorgeben würde, sich an die letzten Tage nicht erinnern zu können? Felicity wirkte ziemlich besorgt um ihn. Vielleicht wäre sie bereit, vorzutäuschen, sie hätte ihre Affäre nicht beendet – wenigstens für eine Weile.
Aber dann wäre er gezwungen, auch vorzutäuschen, keine Erinnerung an Ivys Flucht zu haben. Dadurch würde er ihr und dem jungen Armitage genügend Zeit geben, um Gretna zu erreichen und als Ehepaar die Rückreise anzutreten.
Im Übrigen brachte er es nicht über sich, Felicity zu hintergehen.
„Ich erinnere mich, im hohen Bogen ins Wasser gestürzt zu sein“, erklärte er. „Danach ist alles ein wirres Durcheinander, bis ich erwachte.“
Felicity schob den Arzt beiseite, setzte sich an den Rand des Bettes und nahm Hawthorns Hand. „Erinnern Sie sich an die andere Kutsche, der Sie hinterherritten? Konnten Sie einen Blick ins Innere werfen? Saßen Ivy und Oliver darin?“
Er schüttelte den Kopf.„Nur eine ältere Dame. Hoffentlich habe ich ihr keinen allzu großen Schrecken eingejagt.“
Felicity machte ein enttäuschtes Gesicht. „Schade.“
Plötzlich befiehl Hawthorn eine eigenartige Unruhe. Er meinte sich zu erinnern, dass seine Mutter zu ihm gesprochen und ihn aus den dunklen Fluten des Vergessens gerissen hatte. Unter keinen Umständen durfte er ihr Vertrauen verraten.
„Ivy!“ Er raffte sich mühsam zum Sitzen auf, wobei jeder Muskel, jede Sehne in seinem Körper schmerzte. „Sind wir in Gloucester? Ich muss meine Schwester
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