Entschuldigen Sie Meine Stoerung
eingeschlafen.
»Aber wenn ich es doch wirklich erlebt habe …« Aha! Elviras Stimme klang weinerlicher als zuvor. Ein unzweifelhaftes Indiz dafür, dass sie bald unter meinem Druck zusammenbrechen würde, dass ich sie fast so weit gebracht hatte zu gestehen: In Wirklichkeit war ihre Kindheit total glücklich. Bauernhof, Pferdchen, liebevolle große Brüder. Doch ausgerechnet in diesem Augenblick fuhr mir der Therapeut in die Parade:
»Herr Kunzikoffski, bitte halten Sie sich jetzt endlich etwas zurück und beleidigen Sie Frau Hauser nicht.«
»Ach Mensch. Gerade hatte ich sie fast so weit, dass sie endlich die Wahrheit sagen wollte – und dann kommen Sie …«
»Sie möchten doch auch, dass man Sie ausreden lässt und nicht beleidigt.«
»Nö. Mir ist das egal. Ich durfte noch nie ausreden. Und beleidigt wurde ich bisher noch in jedem Gespräch. Gibt es denn überhaupt andere Gesprächsthemen als meine Minderwertigkeit?«
»Bitte, Frau Hauser, fahren Sie fort. Herr Kunzikoffski wird jetzt schweigen.«
»Werde ich nicht.«
»Herr Kunzikoffski!«
»Nur wenn die Lügenbaronin sich zusammenreißt.«
»Herr Kunzikoffski!«
Ich sprang von meinem Stuhl auf und schrie Frau Hauser an:
»Sagen Sie die Wahrheit. Erzählen Sie der Gruppe, wie Ihre Kindheit wirklich war!«
Sie blickte mich aus angstgeweiteten Augen an. Aber ich war noch nicht am Ende:
»Ich bin dafür, dass Frau Hauser an einen Lügendetektor angeschlossen wird. Wer ist noch dafür?«, fragte ich in die Runde und hob selbst sofort den Arm. Doch die anderen rückten nur unbehaglich auf ihren Stühlen umher. Feiglinge. Sie ließen mich tatsächlich im Stich – mich, den Einzigen, der sich für die Wahrhaftigkeit der Gruppentherapie einsetzte. Noch viel schlimmer aber: Selbst Dr. Merck unternahm nichts. Der Mann war doch von der ersten Minute an von der Situation überfordert. Stattdessen setzte er nun auf puren Aktionismus und darauf, einen Sündenbock für die Eskalation zu suchen: mich!
»Herr Kunzikoffski, bitte gehen Sie einfach einmal fünf Minuten vor die Tür.«
Das hatte er sich so gedacht! Ich drückte mich stattdessen provokativ mit meinem ganzen Gewicht auf den Stuhl und verschränkte die Arme vor der Brust. Das war ich dem deutschen Gesundheitswesen und den vielen Patienten, die all ihre Hoffnungen auf eine Gruppentherapie setzen, schuldig.
Dann kam mir eine Idee: Ich sprang auf, stellte mich auf meinen Stuhl, reckte die Faust gen Himmel und legte aus dem Stegreif eine kämpferische Rede hin:
»Liebe Mitpatienten! Gruppentherapie darf nicht zu einer schlechten RTL -Show verkommen! Leisten wir Widerstand. Geben wir der Gruppentherapie die Würde zurück. Setzen wir als Erstes den völlig überforderten Gruppentherapeuten ab. Von mir aus mit Gewalt. Und dann übernehme ich das Ruder.« Beim Wort ›Ruder‹ überschlug sich meine Stimme.
Mitpatient Max sah mich kurz an, dann schubste er mich vom Stuhl. So ein Judas. Ich spürte, wie mich vier Hände unter der Achsel packten und aus dem Raum zerrten. Dann packten vier weitere Hände meine Füße. Es war eine Schande. Der letzte Aufrechte, der sich die Pervertierung der Gruppentherapie nicht gefallen lässt, wurde von jenen Menschen aus dem Raum getragen, deren Wohlergehen ihm so am Herzen lag. Altruismus ist heutzutage nicht mehr gefragt. Jede gute Tat wird bestraft. Was sind das nur für Zeiten.
Vor allem wunderte mich, dass man mich einfach so anfasste. Mir wäre das ja zu eklig gewesen. Und an meine dreißig Minuten Vorlauf dachte auch niemand. Ich schrie wie am Spieß. Ah! Das erinnerte mich an den Termin, den ich nach der Gruppentherapie hatte: Körpertherapie. Angeblich bekommt man dort ein besseres Körpergefühl und lernt, sich selbst besser zu akzeptieren. Von mir aus.
Noch einmal richtete ich das Wort an meine Mitpatienten: »Könntet ihr mich vielleicht in Raum 232 tragen? Da habe ich jetzt einen Anschlusstermin.« Doch sie ließen mich einfach auf dem Flur fallen.
Wie gesagt, Herr Fitz: Solidarität und Hilfsbereitschaft in einer Gruppentherapie? Von wegen. Ich hoffe, Sie lernen aus meinen Erfahrungen.
Ach, vergessen Sie’s.
Anonymus
98
In der Klinik nennen mich neuerdings alle Arschloch. Doch ein Spitzname ist kein Naturgesetz. Ich glaube fest daran: Ich kann andere Menschen dazu bringen, mich so zu nennen, wie ich es gern möchte.
Der erste Schritt: einen mir genehmen Spitznamen auswählen. Ich entscheide mich für Leopard. Den Spitznamen muss ich nun mit
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