Entschuldigen Sie Meine Stoerung
qualvollen und ohrenbetäubenden Heulen an: »Buäääääääh! Ich will die Klinik nicht verlassen.« Er wird von einem Heulkrampf geschüttelt. Erschrocken blicke ich mich um, bitte ihn, etwas leiser zu weinen; mit dieser Reaktion habe ich nun gar nicht gerechnet. Kann jemand ahnen, dass ein solch stolzer Mann sofort in Tränen ausbricht, wenn man ihn bittet, die Klinik zu verlassen? Ich tröste ihn umgehend:
»Ist ja gut, ist ja gut. Beruhigen Sie sich doch wieder. War nicht so gemeint. Sie sind ja gar kein Leopard. Ich kann Sie also ruhigen Gewissens in meinem Revier akzeptieren. In Wirklichkeit sind Sie eine Heulsuse. Heulsuse und Leopard auf engstem Raum, das verträgt sich eigentlich prima. Also, nichts für ungut.«
Ich stoße ihn zurück in sein Zimmer und schließe schnell die Tür. Dann gehe ich ein Zimmer weiter und klopfe dort. Mal sehen, ob ich diesen Patienten in die Flucht schlagen kann.
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»Hätte ich ja auch nicht gedacht, dass man in einer Klinik zu solchen Mitteln greift.« Ich hocke im Schneidersitz auf einem flauschigen Teppichboden und erwarte gespannt die Anweisungen der alten Frau im Arztkittel, die mir gegenübersitzt. Auf dem Kopf trägt sie Federschmuck, den sie einem indianischen Häuptling entrissen haben muss, und in ihr Gesicht hat sie einen Satz tätowiert, vermutlich etwas Indianisches. Er lautet ose fiod, warts tidsel .
Sie hustet, dass es sie fast zerreißt, hält sich dabei aber nicht die Hand vor den Mund, sondern feuert ihre Bazillen auf ein paar kleine Steine und Äste, die zwischen uns auf dem Boden liegen. Seit fünf Minuten geht das nun schon so. Sie hustet, ich schweige. Zum wiederholten Male studiere ich das indianische Zitat in ihrem Gesicht. Was das wohl heißen mag? Dann hat die Husterei der alten Frau endlich ein Ende; sie wischt sich mit dem Ärmel ihres Arztkittels den Mund ab und fragt:
»Wo waren wir stehengeblieben?«
»Wir hatten noch gar nicht angefangen.«
»Natürlich hatten wir angefangen. Was glauben Sie, was ich die letzten Minuten gemacht habe?«
»Gehustet.«
»Eben. Ich habe die Aura zwischen uns vollgehustet. Das gehört zur Therapie. Glauben Sie, ich huste aus Spaß?«
»Dann waren wir bei Ihrem Husten stehengeblieben.«
»Haben Sie den Dreck mit reingebracht?«
Sie deutet auf die Steine und Blätter zwischen uns.
»Nein, der war schon hier. Ich dachte, der gehört zu unserer Sitzung. Kontakt mit der Natur oder so.«
»Kontakt mit der Natur«, sagt sie verächtlich. »Wenn Patienten Kontakt mit der Natur haben wollen, tunken wir sie in Bullenurin. Räumen Sie den Scheiß hier mal weg.«
»Ich will das nicht anfassen, Sie haben reingehustet.«
»Von mir aus können wir die Sitzung gern auch mit Dreck zwischen uns machen. Mir ist das egal. Weshalb sind Sie noch mal hier?«
Sie greift zu meiner Patientenakte, die neben ihr auf dem Boden liegt, und liest.
»Ach so. Wir sollen eine Wanderbaustellenaustreibung durchführen. Sie fühlen sich also von einer Wanderbaustelle verfolgt?«
»Ja.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wo immer ich bin, ist auch eine Wanderbaustelle.«
»Wie äußert sich das?«
»Sie sehen die Kerle doch auch. Hinter mir. Am Fenster.«
Das habe ich vergessen zu schreiben, liebe Leser: Vor dem Fenster stehen die drei Wanderbaustellenbauarbeiter. Samt Presslufthammer und Betonmischer. Die alte Frau fixiert sie skeptisch und erklärt: »Ah, ich dachte, das seien Handwerker, die das Zimmer renovieren.«
»Mit Presslufthammer und Betonmischer?«
»Wir leben in der Postmoderne, lieber Herr. Ich kenne Leute, die schlafen auf Salzstreuern statt auf Kopfkissen. Und nutzen stattdessen Kopfkissen als Salzstreuer. Aber sagen Sie: Wollen Sie mich den Herren nicht vorstellen?«
»Entschuldigen Sie bitte. Das sind die Wanderbaustellenbetreiber Victor Vaudeville, Marc Robert, und den dritten Namen habe ich vergessen. Das ist meine Therapeutin Dr. Zausel.«
Es folgt ein munteres Hin und Her aus »Guten Tag«, »Angenehm« und »Nett, Sie kennenzulernen.«
Die Therapeutin wendet sich wieder mir zu:
»Die sind aber nett.«
»Nicht, wenn man sie nicht mehr los wird. Ständig läuft der Presslufthammer. Und nie bin ich allein. Ich habe schon seit Ewigkeiten nicht mehr an mir rumgespielt.«
»Und deshalb möchten Sie die austreiben?«
»Ja.«
»Seien Sie lieber froh, dass Sie Anschluss haben.«
»Ich bin aber lieber allein. Außerdem kann ich bei dem Lärm nicht schlafen.«
»Also gut, dann treiben wir die Wanderbaustelle
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