ENTSEELT
benutzen konnte, wenn man ihm Grund gab, sie zu wetzen. Aber sie waren immer offen sichtbar und nicht verborgen. Er konnte sie gebrauchen, aber er benutzte sie nicht heimlich. In Harrys Verstand gab es keine dunklen Winkel und keine gefährlichen Gassen. Oder zumindest hielt er sich nie dort auf.
Und in diesem Augenblick, als sie so neben ihm lag, wurde Sandra klar, wie sie ihn soeben beschrieben hatte. Es war nur eines von zwei Extremen möglich: Entweder war er völlig amoralisch oder vollkommen unschuldig. Und weil sie wusste, dass es ihm an Moral nicht mangelte, musste er einfach unschuldig sein. Ein blutbefleckter Unschuldiger. Ein Kind mit Blut an den Händen und einer schweren Last auf seinem Gewissen und in seinen Albträumen, aber das behielt er für sich. Nur wenn er es nicht mehr ertrug, ging er zu Bettley. Sie war sich nicht sicher, was das aus Bettley machte – einen priesterlichen Judas? Einen Beichtvater, der das Beichtgeheimnis brach? Jedenfalls war sie nicht glücklich über ihre Rolle in diesem Spiel. Und das Schlimmste dabei war, dass sie vermutete, er habe Verdacht geschöpft. Das würde erklären, warum er in ihrer Gegenwart nie entspannt war und sie offenbar nicht so genießen konnte, wie sie das von ihm wollte, so, wie sie seine Nähe genoss. Was für eine Ironie – einen Mann wie Harry zu finden und dann festzustellen, dass von allen Männern er der eine war, den sie wahrscheinlich nicht haben konnte! Jedenfalls nicht so, wie sie ihn wollte.
Sie war plötzlich wütend auf sich selbst. Sie spürte den Drang, die Bettdecke von sich zu stoßen und aus dem Bett zu springen, aber sie wollte Harry nicht wecken. Vorsichtig schob sie seine Hand zur Seite, die auf ihr lag, und glitt sacht unter den Laken hervor. Nackt ging sie ins Badezimmer.
Ihr war nicht warm oder kalt, und sie war auch nicht durstig, aber sie hatte das Gefühl, sie müsse etwas tun. Etwas ganz Gewöhnliches, etwas für sich, um sich physisch zu verändern. Vielleicht konnte sie damit auch ihre Stimmung ändern. Tagsüber ließ sich das ganz einfach bewerkstelligen: Dann ging sie in den Park und sah den kleinen Kindern beim Spielen zu, und sie wusste, dass etwas aus dieser märchenhaften Kinderwelt den Weg in ihre viel weniger elysische Existenz finden würde. Jemand, der im Allgemeinen so positiv in die Welt blickte wie sie, musste ganz schön fertig sein, um so etwas zu brauchen, das wurde ihr plötzlich klar. Es war erbärmlich, wenn man sich an der Unschuld anderer laben musste, um die eigene Schuld auszugleichen.
Sie trank ein Glas Wasser, spritzte sich kaltes Wasser unter die Achseln und auf die Brüste, die nach ihrem Liebesspiel verschwitzt waren, rubbelte sich dann wieder trocken und betrachtete sich kritisch im Badezimmerspiegel.
Im Gegensatz zu Harry fehlte Sandra jegliche Naivität. Vielleicht hätte sie die bewahrt, wenn ihre telepathischen Fähigkeiten nicht gewesen wären. Aber es ist schwierig, in einer Welt naiv oder unschuldig zu bleiben, in der sich unvermittelt die Gedanken anderer Menschen wie die Seiten eines Buches vor einem öffnen, wenn man nicht in der Lage ist wegzusehen, sondern tatsächlich alles lesen muss, was da geschrieben steht. Die anderen Telepathen im E-Dezernat – Leute wie Trevor Jordan – hatten es einfacher, denn sie mussten ihr Talent ausrichten und kanalisieren; es kam und ging nicht einfach von selbst wie ein schlecht justierter Radiosender.
Wütend schüttelte Sandra den Kopf. Ha, da war es schon wieder, dieses fürchterliche Selbstmitleid! Was? Mitleid mit sich? Mit diesem schönen Wesen vor sich im Spiegel? Wie oft hatte sie diese Sendung schon gehört, von so vielen der Sender da draußen: Gott, was würde ich dafür geben, wenn ich so aussähe!
Wenn die nur wüssten ...
Aber wie viel schlimmer wäre ihr Leben, wenn sie jetzt auch noch hässlich wäre?
Sie hatte große, grünlich-blaue durchdringende Augen über einer kleinen, kecken Nase; einen Mund, der sich Mühe gab, weich und nicht zynisch zu wirken; kleine Ohren, die beinahe von dem Schopf bronzener Haare verdeckt wurden, und hohe Wangenknochen, die sich sanft zu einem rundlichen, ziemlich selbstbewussten Kinn wölbten. Natürlich war ihr klar, wie sie auf andere wirkte. Sie las das in deren Gedanken, und das ließ sich nicht verleugnen. Ihre rechte Augenbraue, eine leicht nach oben gezogene bronzefarbene Linie, wirkte fragend, fast herausfordernd. So als wollte sie sagen: »Na los – denk’s doch!« Manchmal tat
Weitere Kostenlose Bücher