ENTSEELT
aber egal wie sie es auch drehte, das war es nun einmal) interessanter als ihre übliche Arbeit als menschliche Wünschelrute bei Fällen, bei denen die Polizei nicht mehr weiterkam. Das war ihr ›normales‹ Einsatzgebiet: Sie musste kriminelle Hirne belauschen, die Gehirne von Verhafteten in ihren Zellen, und nach Spuren suchen, die sich mit konventionellen Methoden nicht aufspüren ließen. Die Arbeit selbst wäre gar nicht so übel gewesen, wenn sie sich nicht jedes Mal in den Verstand dieser Leute hineinbegeben müsste. Ein solcher Geist war oft ein Jauchetümpel, nachdem sie sich in ihn hineinversetzt hatte, fühlte sie sich immer wie nach einem Bad in einer Kläranlage. Und manchmal, vor allem wenn es sich um einen brutalen Mord oder eine Vergewaltigung handelte, meinte sie, diesen Gestank noch nach langer Zeit an sich wahrzunehmen.
Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie sich in Harry Keogh verliebt hatte. Sein Geist war wie ein Feld voller Lilien ... meistens wenigstens. Er hatte wirklich das sanfteste Wesen, das ihr jemals begegnet war. Aber er war nicht weich, ganz bestimmt nicht. Und auch nicht naiv, obwohl er sich diesen Hauch der Unschuld bewahrt hatte. Er war nur sanft. Harry konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn einem Menschen.
Bei Sandras Aussehen wäre es erstaunlich, wenn es keine Männer in ihrem Leben gegeben hätte. Es hatte sie gegeben, ein paar. Aber ihr Talent war nichts, was man an- oder ausschalten konnte. Das war der große Nachteil ihrer Gabe: Sie kam und ging, ohne dass sie das beeinflussen konnte. Es konnte passieren, dass sie mit einem Mann essen ging, der sie dann nach Hause brachte, ihr auf der Türschwelle die Hand küsste und sie fragte, ob er sie wiedersehen dürfe. Und gerade wenn sie dann Ja sagen wollte, öffnete sich plötzlich sein Verstand vor ihr wie ein Buch, und sie konnte ihn darin als rammelnden Satyr sehen – und sich selbst als den Gegenpart dazu. Nicht alle Männer waren so, aber es reichte.
Und dann war da auch noch die Verlogenheit – die Tatsache, dass Menschen nicht ehrlich sind. So wie der Mann in der Nachbarswohnung, der einem lächelnd einen guten Morgen wünscht, obwohl er im gleichen Moment denkt: Verpiss dich, du grässliche Schnalle! Oder der Friseur, der bei seiner Arbeit höflich Smalltalk betreibt und dann plötzlich denkt: Gott, für diesen Mist hier kriege ich zwölf Pfund die Stunde! Die blöde Kuh hat mehr Geld als Verstand!
Es hatte gut aussehende Männer gegeben, die sich nur Gedanken darüber machten, wie sie neben ihr aussahen. Und weniger gut aussehende, die jedes Mal vor Eifersucht kochten, wenn jemand anders ihr auch nur einen Blick zuwarf. Und dann, wenn man glücklich eine ganze Woche mit einem »perfekten« Liebhaber überstanden hat, hat man Sex mit ihm und liegt danach neben ihm im Bett und muss mit anhören, wie er überlegt, ob die Zeit noch für eine weitere Nummer reicht und er trotzdem noch den letzten Bus nach Hause erwischt.
So war das Leben eben, und Sandra wusste das auch. Sie hatte sich damit abgefunden, seit ihre Gabe sich in ihrer Pubertät zum ersten Mal gezeigt hatte. Aber Liebe war bei so etwas nicht möglich. Jedenfalls nicht, bis sie Harry kennengelernt hatte.
Er war so ... anders.
Sie hatte seine Akte gelesen und seine Gedanken. Er hatte Menschen getötet, viele Menschen. Das stand in seiner Akte. Aber da stand nicht, dass er sich an fast jeden davon erinnerte, und dass es ihm um jeden davon leid tat, und dass er immer wieder den Drang verspürte, zurückzugehen und ihnen zu sagen, dass es ihm leid tat, ihm aber keine Wahl geblieben sei. Da stand nicht, dass die Dinge, die er gesehen und getan hatte, ihn in seinen Albträumen verfolgten. Und außerdem konnte Sandra nicht einmal die Hälfte von dem glauben, was ihm zugeschrieben (oder doch eher untergeschoben?) wurde. Ihre eigene Gabe war paranormal, sicher, aber das, wozu Harry fähig war – oder gewesen war –, war übernatürlich. Und er hatte seine Kräfte so gut eingesetzt, wie es ihm nur möglich war. Er hatte viele Menschen mit ihnen getötet, aber er hatte nicht einen davon ermordet.
Sandra wusste, wie Mörder denken, und Harry Keogh dachte anders. Die Gedanken von Mördern sind tief und dunkel wie roter Wein, aber unruhig wie eine stürmische See und voller Klippen und Untiefen. Harrys Gedanken dagegen waren klar wie Quellwasser über Kieselsteinen. Auch sein Verstand konnte scharf sein, es gab viele Dolche darin, die er
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