ENTSEELT
sie das auch.
Ihr Lächeln war strahlend und sympathisch, vor allem, wenn sie schmeichelhafte Gedanken auffing. Aber manchmal runzelte sie auch die Stirn und musterte jemanden bei anderen Gedanken, die sie »hörte«, durchdringend. Auf den ersten Blick konnte man sich Sandras Gesicht ohne weiteres auf dem Cover eines der vielen Hochglanzmagazine vorstellen. Aber bei näherem Hinsehen erkannte man die vielen unverwechselbaren Eigenarten, die ihr Charakter dort hinterlassen hatte. Ihre siebenundzwanzig Jahre hatten ihr einen Stempel aufgedrückt; es gab zwar Lachfalten in ihren Augenwinkeln, aber auch andere Linien, die sich über ihren Augen eingegraben hatten, Zeichen des Missmuts. Sie war dankbar dafür, dass diese Letzteren dem Gesamteindruck keinen Abbruch taten.
Ansonsten war Sandras Körper abgesehen von zwei Einschränkungen fast perfekt, oder kam ihrem Ideal jedenfalls nahe genug, um ihren Ansprüchen zu genügen. Sie war ›oben rum‹ zu ausladend, was ihr eine wippende Elastizität verlieh, und hatte Bedenken, dadurch in eine bestimmte Schublade gedrängt zu werden. Der andere Makel waren ihre Beine, die ihr viel zu lang waren.
Ihr fiel wieder ein, was Harry bei einer früheren Gelegenheit gesagt hatte: »Es mag ja sein, dass du das als Makel empfindest, aber ich bin davon begeistert!« Es gefiel ihm, wenn sie beim Liebesspiel ihre Beine um ihn schlang, oder ihm die Brüste einladend vor dem Gesicht baumeln ließ. Ihre großen Brustwarzen, die wie die meisten Brustwarzen asymmetrisch waren, schienen ihn immer wieder zu faszinieren, auf jeden Fall bei den Gelegenheiten, wenn er ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Aber nur allzu häufig war er ganz weit weg. Und jetzt wurde ihr noch etwas klar: Sie hatte den Sex oftmals eingesetzt, um ihn im Hier und Jetzt gefangen zu halten, so als befürchte sie, er werde bei der ersten Gelegenheit vor ihr davonlaufen, wenn sie ihm seine Freiheit ließ.
Ihr war plötzlich kalt. Sie schaltete das Licht aus und ging ins Schlafzimmer zurück. Harry lag genauso da, wie sie ihn verlassen hatte, auf der linken Seite. Sein rechter Arm lag in der Mulde, die ihr Körper hinterlassen hatte. Und sein Atem war immer noch ruhig und gleichmäßig. Seine Augenlider bewegten sich nicht. Ein kurzer, unwillkürlicher telepathischer Blick zeigte Sandra endlose, leere Traumgewölbe, durch die er schwebte, auf der Suche nach einer Tür. Der Einblick kam und verschwand wieder, und Sandra seufzte. In Harrys Träumen waren immer diese Türen. Vielleicht entsprachen sie den Möbius-Türen, die er einst mathematisch aus dem Nichts heraufbeschworen hatte.
Er hatte ihr einmal erklärt: »Jetzt, wo es vorbei ist, habe ich manchmal das Gefühl, es war alles nur ein Traum oder eine Geschichte, die ich in einem Märchenbuch gelesen habe. Es ist alles so unwirklich, wie etwas, das ich mir ausgedacht habe, oder wie eine außerkörperliche Erfahrung. Aber damit kommt dann auch umso deutlicher die Erinnerung, wie das wirklich gewesen ist, als ich unkörperlich war, und dann weiß ich wieder, dass alles wirklich passiert ist. Wie kann ich das erklären? Hast du je geträumt, du könntest fliegen? Hattest du schon mal einen Traum, in dem du genau wusstest, wie man fliegt?«
»Ja«, hatte sie mit ihrem leichten schottischen Akzent geantwortet. »Oft und ziemlich lebhaft. Ich laufe einen steilen Abhang hinunter, um mich in die Luft zu stürzen, und dann segle ich hoch über die Pentland Hills hinweg, über das Dorf, in dem ich geboren bin. Manchmal hat mir das Angst gemacht, aber ich erinnere mich, dass ich genau wusste, was ich zu tun hatte.«
Harry war aufgeregt. »Genauso ist es! Und wenn du dann aufgewacht bist, hast du versucht, dich an den Traum zu klammern; du wolltest dieses Geheimnis nicht mit dem Traum zusammen entschwinden lassen? Und es hat dich geärgert, als du dann im Wachsein bemerkt hast, wie sehr du wieder an die Erde gefesselt bist? Na ja.« Er seufzte und seine Erregung ließ nach. »Ungefähr so ist das manchmal für mich. Wie etwas, das ich in vielen Kindheitsträumen hatte, das aber jetzt für immer aus mir herausgebrannt worden ist.«
Das ist auch besser für dich, Harry, hatte sie gedacht. Diese Welt war ein gefährlicher Ort. Jetzt bist du in Sicherheit.
Es war besser für ihn, aber nicht für das E-Dezernat, und das war auch der Grund, warum sie hier war. Die wollten, dass er seine Fähigkeiten zurückerhielt, und es war ihnen ziemlich egal, wie das geschah. Sie sollte
Weitere Kostenlose Bücher