Entsorgt: Thriller (German Edition)
eingestehen können, aber das war es. Ich glaube, wir haben es getötet, aber es gibt noch mehr von diesen Wesen da draußen. Wesentlich schlimmere. Größere.«
Er konnte Jenny jetzt weinen hören. Er hatte sie nicht erschrecken wollen, sondern wollte, dass sie ihm zuhörte. Sie musste sich konzentrieren.
»Du hast nie wirklich Notiz von mir genommen. Mir nie richtig zugehört. Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr, aber tu es bitte dieses eine Mal. Tu es jetzt. Ich glaube, dass dein Leben davon abhängt.«
»Wie kannst du mir das antun, Ray? Das ist so krank. Du hattest nie besonders viel Rückgrat, aber ich hätte niemals gedacht, dass du dich zu so etwas herablassen würdest.«
»Dreißig Sekunden noch, Jenny, mehr brauche ich nicht. Ich war heute Nachmittag draußen am Reservoir, nicht allzu weit von dort entfernt, wo wir damals mit dem Auto gestoppt haben. Ich sah, wie sich etwas aus dem Müll der Deponie erhob. Etwas Derartiges habe ich niemals zuvor gesehen, bis auf diesen Tag mit dir. Und dann erschuf es mehr von ihnen – zu viele, um sie zu zählen. Ich schwöre, Jenny, ich schwöre dir, ich habe es gesehen. Habe sie gesehen. Ich musste dich anrufen. Musste dir Bescheid sagen. Damit du vorbereitet bist. Damit du … hier verschwinden kannst … wenn du willst.«
Am anderen Ende der Leitung schien Jenny, wenn auch immer noch schniefend, halbwegs ihre Fassung wiedergewonnen zu haben.
»Du kannst mich nicht wiederhaben, Ray. Ganz gleich, wie viel Mist du erzählst oder wie sehr du versuchst, mir Angst zu machen. Keine Chance. Du bist wirklich das Letzte, Ray, das Allerletzte.«
Sie legte auf.
»Jenny. Jenny? Bist du noch da? Bitte, um Gottes willen, sei noch da.«
Er wählte die Nummer erneut, und sofort sprang der Anrufbeantworter an. Er wartete auf die Aufforderung, eine Nachricht zu hinterlassen, überlegte es sich dann allerdings anders und hängte ein. Was hätte er noch sagen können, um sie zu überzeugen? Wie konnte er sicher sein, dass sie seine Nachricht überhaupt abhören würde? Er stellte den Hörer zurück in die Basisstation und ließ sich aufs Sofa fallen. Er hatte seine Chance gehabt, hatte sein Bestes getan, sie zu warnen. Jetzt war es Zeit, dass er an sich selbst dachte.
Mason Brands Verfall setzte ein, als auch das Obst und Gemüse in seinem Garten zu verrotten begannen – das meiste davon ungeerntet.
Obwohl er immer schon einen Bart getragen hatte, pflegte er diesen doch regelmäßig zu schneiden. Jetzt rührte er ihn nicht mehr an. Er begann dahinter zu verschwinden, der Bart überwucherte sein Gesicht, wie wilder Efeu sich alter Ruinen bemächtigt. Er begrüßte es. Er hatte aufgehört, sich die Zähne zu putzen, und badete sogar noch seltener als zuvor. Er aß kaum noch und unternahm keinerlei Anstrengung mehr, etwas einzulegen oder einzukochen.
Er hatte seine Einsicht in die Natur der Dinge verloren.
Sollte er doch eingehen wie eine ausgetrocknete Rebe.
Aber er wusste, dass es noch nicht an der Zeit war. Er wartete auf etwas. Etwas würde geschehen. So viel wusste er. Früher oder später musste es passieren. Erst dann wäre sein Leben beendet. Dass er, Mason Brand, krepieren und verrotten würde, war mehr als angemessen. Er hatte keinen Platz mehr in dieser Welt verdient.
Der Herbst kam weniger jäh, als es der Frühling getan hatte. Die stickigen, langen Tage schienen ewig anzudauern. Jedermann sonst erlebte sie als den wundervollsten Sommer, voller Hitzeschleier und leuchtend orangefarbener Sonnenuntergänge. Die Menschen lagen auf den Wiesen im Park und tauschten träge Küsse aus. Eltern unternahmen Picknicks und Radtouren mit ihren Kindern. In den Universitätsstädten sprangen die Studenten, beflügelt von Bier und Cider, in die Kanäle und Flüsse.
Kein Mensch glaubte wirklich daran, dass der Sommer ewig andauern würde, aber niemand wollte, dass er zu Ende ging. Die warmen Nächte, schwül und voller Regenverheißungen, lullten die Welt – und insbesondere Shreve – mit einem Gefühl ewiger Jugend ein.
Als sich die ersten Blätter verfärbten und von trägen Brisen davongeweht wurden, war Mason Brand der einzige Mensch, dem das ein Lächeln entlockte. Aber es war ein frostiges Lächeln.
Jede Faser seines Körpers verzehrte sich danach, der Erde Last auf ihm zu spüren, sich von ihrem Gewicht zu Boden drücken zu lassen, ihre heilenden Kräfte seinen Knochen das Gift entziehen und das Böse neutralisieren zu lassen.
Ray wartete zwei Tage lang
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