Entsorgt: Thriller (German Edition)
hinausgeschaut, dass die Schemen da draußen, die halb verrotteten Stängel, Strünke und Reben gar keinen Sinn mehr ergaben. Im spärlichen Mondlicht vermochte er keinen einzigen von ihnen zuzuordnen.
Das Messer wurde, die Klinge nach oben gerichtet, in seiner kraftlosen Faust zur Verteidigungswaffe. Das Gefühl der Anwesenheit von etwas vor der Tür wurde stärker. Ein schwarzer Schatten flutete bis an den Rand der Türstufe, ein lebendiges schwarzes Meer, das alles verschluckte.
Aber das war unmöglich.
Er trat näher an das Fenster in der Tür heran, bis es von seinem eigenen Atem beschlug. Der Erdboden schien sich im Mondlicht zu wellen, als befände sich sein Haus inmitten eines Ozeans. Sein Griff um das Messer lockerte sich, weil seine Handfläche zu schwitzen begann.
Er lauschte, presste ein Ohr an das Glas.
Ein Flüstern wehte über das Meer in seinem Garten, in einer Sprache, die er nicht verstand.
Zumindest redete er sich ein, sie nicht zu verstehen, dabei verstand er in Wahrheit jedes Wort. Die Stimme war zurückgekehrt.
Etwas kratzte am Fuß der Tür, und er wich zurück.
Die Wellen in seinem Garten wurden höher, als käme ein Sturm auf. Ihre Kämme verdeckten das einzige Ding in seinem Garten, das er noch wiedererkannte: seinen Schuppen. Der Meeresspiegel schien zu steigen.
Er wich weiter zurück.
Was konnte er mit seinem Messer dagegen schon ausrichten?
Und konnte er sich wirklich das Leben nehmen, angesichts dessen, was die Dämmerung am folgenden Morgen offenbaren würde?
Er blieb an der Tür stehen und wartete, versuchte den Schatten Gestalt zu geben, etwas Vertrautes in der Flut der Bewegungen vor dem Fenster zu finden. Es gelang ihm nicht.
Er wartete darauf, dass es – dass sie – kamen und ihn holten, denn er hatte es mehr als verdient. Er wartete darauf, dass sie ihn in Adern, Muskeln, Knochen, Lymphe und Blut zerlegten, seine Organe voneinander trennten, um sie ihren eigenen Körpern einzuverleiben. Aber sie kamen nicht näher als bis zur Türschwelle.
Nach gut einer Stunde hatte er sich in eine Art Trance gestarrt, als meditiere er über ein Mandala. Dann, endlich, wurde er müde. Müde genug, um zu schlafen. Er wandte sich von dem schwarzen Ozean in seinem Garten ab und stapfte die Treppe hinauf zu seinem Bett. Er legte das Messer in die Schublade seines Nachttisches neben die Bibel seiner Großmutter, ein Buch, das er niemals gelesen hatte.
Er hatte noch etwas zu erledigen, bevor er sterben würde.
Aggie stand nackt in ihrem winzigen WG-Zimmer in Wandsworth.
Beim Unterfangen, zwei Zimmer in vier umzubauen, hatte ihr Vermieter ganze Arbeit geleistet: Ihres bot kaum genug Platz für ihr Bett, und die Wände waren so dünn wie Pappe. Irgendwo im Haus drang Feuchtigkeit ein, in jedem Zimmer roch es nach Schimmel und Moder. Sie hasste es, und mit ihren Mitbewohnern sprach sie kaum ein Wort. Vielleicht lag es daran, dass sie der Überzeugung war, so viel mehr verdient zu haben als das hier. Vielleicht aber auch daran, dass sie auf dem besten Wege war, genau der Mensch zu werden, der sie niemals sein wollte.
Der Spiegel führte ihr diesen Menschen vor.
Durch ihr Bemühen, ebenso dünn wie die anderen Mädchen zu bleiben, hatte sie stark an Gewicht verloren. Selbst nachdem sie den Job in East Putney angenommen und bei den Halsabschneidern von ihrer Modellagentur gekündigt hatte, war sie nicht mehr auf ihr früheres Gewicht gekommen. Während sie sich im Spiegel betrachtete, versuchte sie sich daran zu erinnern, wie sie früher ausgesehen hatte. Sie war alles andere als fett gewesen, aber ihre Brüste waren voller und ihr Körper deutlich weiblicher gewesen. Jetzt zeichneten sich ihre Rippen ein wenig zu deutlich unter ihrem flachen Busen ab. Die sanfte, attraktive Wölbung ihres Bauches war einer nicht übersehbaren Höhlung gewichen – in der Welt der Models durchaus erstrebenswert, aber ihr gefiel es ganz und gar nicht. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Sie versuchte mehr zu essen, aber hatte einfach keinen Hunger. Ihre Haut hatte das Grau der Großstadtluft angenommen. Ihr Schweiß roch stärker, saurer als früher.
Das alles sorgte dafür, dass sie sich beständig unwohl fühlte, aber ihre Haut wusste noch ganz andere Geschichten zu erzählen. Nicht nur Geschichten vom einsamen Singlemädchen, das es in der Modewelt zu etwas bringen will. Die Blutergüsse an ihren Handgelenken und Knöcheln verschwanden eigentlich nie, weshalb sie darauf achtete, nur Kleidung zu
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