ENTWEIHT
weiter Ferne dem Hafen zustrebten.
»Dir gefällt es hier nicht?«, sagte Malinari, indem er sich mehr Wein aus der Flasche in dem Eiskübel einschenkte. »Gut! Wenn wir die Grenzen festsetzen, werde ich dich daran erinnern, was du heute Abend gesagt hast. Vielleicht mache ich Krassos zu meinem Hauptquartier.«
»Was?« Überrascht hob Vavara die Augenbrauen. Sie blickte ihn an. »Sag bloß, dir gefällt es hier wirklich? Du machst keine Witze?«
Er zuckte die Achseln. »Es ist abgeschieden, und die Handvoll Einwohner sind einfache Leute. Oh, sie haben ihre Leidenschaften wie alle anderen Menschen auch, aber das ist kein Vergleich zu den kultivierteren Kreisen, die es hier auf der Erde in Scharen gibt. In meinem Kasino in den australischen Bergen war ich von der sogenannten ›kultivierten‹ Gesellschaft umgeben. Allesamt waren sie eitel, raffsüchtig und habgierig bis ins Letzte. Nach außen hin geben sie sich zivilisiert, aber in ihrem Innern brodelt es. Ihre zusammengehäuften Gedanken waren ein einziger Aufruhr: Jeder versuchte bloß, sich vorzudrängen und den anderen zu übertrumpfen. Du kannst sie alle haben! Wenn ich erst wieder ein Lord bin – und das werde ich sein, ich werde über ein riesiges Gebiet und eigene Völker herrschen – dann soll sich einer meiner Knechte bloß mal erlauben, an mehr als nur Essen für seinen Bauch, eine Frau für sein Bett, an das Patrouillieren der Grenzen oder die Hege und Pflege der Bestien zu denken ... wem das nicht genügt, der wandert in die Vorratskammer!«
Vavara unterbrach ihn nicht. Sie lauschte seinen Worten, doch ihr Blick war verschleiert und nachdenklich, während sie seine Züge musterte. »So fängt es also an«, erwiderte sie schließlich. »Oder vielmehr, so wird es anfangen. ›Grenzen, die bewacht werden müssen‹, und die ›Hege und Pflege der Bestien‹! Du sprichst von den Vorratskammern und meinst natürlich deine Feste beziehungsweise in dieser Welt deinen Gebirgszug oder deine Insel oder womöglich gar einen ganzen Kontinent? Wird es so sein, Malinari, in – sagen wir – hundert Jahren? Grenzen und … Bestien? Du meinst doch gewiss Kampfkreaturen. Und was die Vorräte angeht – beziehungsweise die Vorratskammern, von denen du sprachst – nun, dabei handelt es sich doch offensichtlich um Kriegsvorbereitungen!«
Abermals zuckte er die Achseln, doch nun wählte er seine Worte sorgsamer. Immerhin war dies (vorerst zumindest) Vavaras Territorium. »Wer weiß schon, was in hundert Jahren sein wird! Vavara, wir sind Wamphyri! Und was ich von kultivierten Menschen sagte – über deren Laster und Leidenschaften – nun, das gilt für uns doch erst recht! So sind wir nun mal, und das können wir nicht ändern. Und das möchten wir auch gar nicht. Und du auch nicht. Im Augenblick allerdings sind wir Verbündete, und wir dürften bald genug Gegner haben, auch ohne dass wir uns gegenseitig an die Kehle gehen. Aber glaube mir, unser Blatt sticht sie aus!«
Sie runzelte die Stirn. »Unser Blatt sticht sie aus? Was soll das nun wieder heißen?«
»Das ist ein Ausdruck, den ich in meinem Kasino in Xanadu lernte. Eines von vielen Dingen, die ich lernte, als ich die Menschen an den Spieltischen beobachtete, an denen sie ihr Geld an mich verloren. Ah, aber diesen Leuten kann man noch weit mehr abnehmen. Sogar ihre ganze Welt.«
»Ihre ganze Welt«, wiederholte sie seine Worte. »Und wieder schwingt in deiner Stimme etwas mit, was deine wahren Absichten preisgibt!«
Er trank einen Schluck Wein. »Oh«, nickte er, »bist du neuerdings unter die Mentalisten gegangen?«
»Bah!«, entgegnete Vavara, verächtlich die Lippen schürzend. »Keine Sorge, den Voyeurismus überlasse ich dir. Und versuche nicht, das Thema zu wechseln. Du siehst bereits eine Zeit voraus, in der wir wieder Krieg gegeneinander führen. Ich kann nicht sagen, dass mir dieser Gedanke gefällt. Außerdem denkst du viel zu weit in die Zukunft. Wir könnten schon heute, morgen oder nächste Woche ernsthafte Schwierigkeiten bekommen, auch ohne dass wir losziehen, um Welten zu erobern – oder heute Abend unsere Eselfohlen zählen, sobald in den Höhen der erste Wolf sein Geheul anstimmt.«
Letzteres war ein altes Szgany-Sprichwort. Denn für Vavara und Malinari – die in den Eislanden Jahrhunderte im Kälteschlaf überdauert hatten – schien das verlorene Paradies der Sonnseite nur einen Tag entfernt. Außerdem klammerte Vavara sich weit mehr an die alte Lebensweise als ihr Gast. Und
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