ENTWEIHT
… geht weit tiefer als bei einem simplen Rachefeldzug. Ja, er könnte sogar derjenige sein, den ich schon seit Langem erwarte, der Mann, der in meinen frühesten Träumen vorkam. Und das Verflixte daran ist, ich hatte ihn sogar schon hier, genau da, wo ich ihn haben wollte! Aber ich glaubte, er wäre nur an dem Mädchen, Natascha, interessiert. Hätte ich es geahnt – dass sie bloß ein Werkzeug war, nichts als ein Mittel, das er einsetzte, um an mich heranzukommen, und dass in Wirklichkeit ich das Ziel seiner … nun was? Seiner Nachforschungen … war – dann hätte ich mir schon längst die Hände schmutzig gemacht, darauf kannst du Gift nehmen!«
Während Castellano vor sich hinmurmelnd auf und ab schritt, wurde seine Frustration immer offensichtlicher. Seine Stimme war nur mehr ein leises, grollendes Knurren. Die blutroten Augen traten ihm aus den Höhlen. Sein totenbleiches Gesicht war vor Hass verzerrt, die gebleckten Lippen entblößten glänzende, rasiermesserscharfe Zähne, und in seinem Schlund wand sich eine gespaltene Zunge. Garzia hatte derartige Verwandlungen auch früher schon mitbekommen, allerdings selten so ausgeprägt.
»Oh, jaaa!«, fuhr Castellano fort. »Ich hätte es genossen, ihn auszuquetschen, so lange, bis all seine Geheimnisse mein gewesen wären! Anstatt es diesen vier Idioten zu überlassen, hätte ich mich persönlich darum kümmern sollen, dass Jake Cutter mir keine Schwierigkeiten mehr bereitet!«
»Luigi«, sagte Garzia, als sein Gebieter vor Wut bebend mitten im Raum stehen blieb, »ich bin mir nicht sicher, ob ich dem folgen kann, was du da sagst. Deine Fähigkeiten und deine Gedankengänge – das ist zu hoch für mich.«
»Ja, natürlich kannst du es nicht begreifen«, meinte Castellano. »Immerhin bin ich nun mal, was ich bin, du hingegen bist lediglich, was ich aus dir machte. Meinem Gedächtnis entgeht nichts, Garzia! Ich ziehe meine Schlüsse und zähle zwei und zwei zusammen, bis die Summe der einzelnen Teile deutlich vor mir steht. Aber wenn die Gleichung nicht aufgeht … dann fange ich an, mir Sorgen zu machen. Wir haben es hier mit etwas zu tun, das viel tiefer reicht, als wir an der Oberfläche sehen. Diese Dinge reichen weit in die Vergangenheit, bis zu meiner Mutter zurück und wieder nach vorn in die Gegenwart … weiter vermag ich nicht mehr zu blicken. Das an sich ist bereits merkwürdig und besorgniserregend: Ich träume nicht mehr ...« Er funkelte Garzia an, doch dieser brachte lediglich ein Achselzucken zustande.
»Ich werde versuchen, es dir zu erklären«, sagte Castellano, und nach ein paar Sekunden: »In den letzten Tagen der Manse Madonie, ehe sie in den Abgrund stürzte und die Gebrüder Francezci mit sich riss, hatte meine Mutter mehr Zeit für mich. Das heißt, ich konnte sie öfter sehen, allerdings immer nur im Geheimen. Sie schwor nämlich Stein und Bein, dass ihre Gebieter sie töten würden und mich ebenfalls, sollten sie je dahinterkommen, dass einer von ihnen einen Sohn gezeugt habe und es aus der fortgesetzten Vergewaltigung ihrer Dienerin, Katrin, einen Nachkommen gab!
Also ging ich ihnen, sogar als ich selbst bereits zu Macht und Ansehen gelangt war, aus dem Weg. Gar nicht so einfach, immerhin fungierten sie als Berater aller Mafia-Oberhäupter. Du wirst dich erinnern, Garzia, dass ich mich damals, in jenen frühen Tagen, nur selten in den Vordergrund spielte. Jetzt weißt du, warum. Ich wusste, dass die Warnung meiner Mutter begründet war. Mir war klar, dass die Francezcis mich auf der Stelle umbringen würden, sollten sie auch nur den Verdacht hegen, dass ich von ihnen abstamme.
Antonio und Francesco bedienten sich ihrer. Nicht länger sexuell, nein – schließlich war sie alt geworden, die beiden hingegen jung geblieben – aber nach wie vor war sie Dienerin in der Manse Madonie, und sie setzten sie als Botin und Späherin ein. Wann immer sie für die Francezcis in Bagheria oder Palermo unterwegs war, setzte sie sich mit mir in Verbindung, und stets fand ich eine Möglichkeit, sie zu sehen.
Aber was sie mir alles erzählte! Dass die Francezcis Ungeheuer seien und Antonio ein Gestaltwandler, der immer unförmiger wurde! Dass sie ihren eigenen Vater in einem Kerker, einer Grube, gefangen hielten und fürchteten, dass ihnen ihr Ende bevorstand – was ja auch zutraf!
Und aufs Neue erzählte sie mir von den ungeheuren Schätzen in den Gewölben unter der Manse Madonie; sie gab mir Dokumente, die sie all die Jahre über versteckt
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