ENTWEIHT
nach Leben! An den Rand deines Geistes gepfercht, vermag ich noch nicht einmal den wahren Geschmack deiner Speisen zu kosten, lediglich einen schwachen Widerhall des Genusses, den du daraus ziehst.
»Immer noch besser, als in deiner Senkgrube zu sitzen, oder?«
Alles ist besser als das, erwiderte Korath. Aber was vor Hunger zu sterben bedeutet, weißt du ja noch nicht einmal ansatzweise. Wenn du keine andere Wahl mehr hast, als den knöchernen Pfropfen aus der Wirbelsäule eines Flugrochens zu ziehen, um einen Schluck von seiner grässlichen Rückenmarksflüssigkeit zu nehmen, dann weißt du, was es heißt, vor Hunger zu sterben!
Jake verzog das Gesicht. »Was? Willst du mir etwa den Appetit verderben?« Und als Korath ihm keine Antwort gab: »Das Hotelrestaurant dürfte mittlerweile geschlossen haben, aber ich kenne ein exzellentes China-Restaurant in Soho. Ich habe dort mit Lardis Lidesci gegessen. Er stammt aus deiner Welt – von einer Seite davon, jedenfalls – und er fand das Essen großartig.«
Stets zu Diensten, sagte Korath.
Jake trocknete sich ab und strich sich das Haar zurück. Für gewöhnlich ging er lieber zum Friseur und ließ sich sein Haar zu einem Pferdeschwanz flechten, doch heute Nacht musste ein schlichtes schwarzes Gummiband genügen. Seine Kleidung war ebenfalls schlicht, dieselben Sachen, die er angehabt hatte, als er das E-Dezernat verließ. Er hatte sie im Hotel reinigen und bügeln lassen …
In Soho war es zwanzig nach zehn. In dem Lokal wimmelte es von jungen Londonern, die in der für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Nacht noch ausgingen. Das chinesische Essen war gut, das chinesische Bier, mit dem Jake das Ganze herunterspülte, ebenfalls.
Als er hinterher an der U-Bahnstation Oxford Circus vorüberging, die mannigfaltigen Gerüche der Stadt einatmete und die Sehenswürdigkeiten Londons in sich aufnahm, fragte er: »Nun?«
Nun?, entgegnete Korath.
»Das Essen?«
War gut, meinte Korath. Das kannst du dir doch denken.
»Besser als Rückenmarksflüssigkeit?«
Besser als die eines Flugrochens, ja, erwiderte Korath düster. Daraufhin zog Jake es vor, nicht weiter in ihn zu dringen.
Und was jetzt?
Jake zuckte die Achseln. »Ich könnte zum Leicester Square gehen, aber fürs Kino ist es leider schon zu spät. Schade, vor ein paar Tagen lief Predator 2020. Andererseits, all die übermäßige Gewalt – Blut und Eingeweide und wer weiß, was sonst noch – würde dich bloß unnötig in Erregung versetzen. Deshalb ist es wahrscheinlich ganz gut so. Damit befinden wir uns in einer Pattsituation; zu spät, um noch irgendetwas Nennenswertes zu unternehmen, und zu früh, um das ›Frankie’s‹ aufzusuchen. Ich will sichergehen, dass der Laden leer und schon zu ist, ehe ich ihn ein für allemal dicht mache. Natürlich könnte ich dich jederzeit darum bitten, mich allein zu lassen und vorübergehend in deine Senkgrube zurückzukehren, damit ich eine Zeit lang meine Ruhe habe?«
Zurück nach Radujevac?, protestierte Korath. In dieses trostlose Loch? Aber warum?
»Nun«, sagte Jake, »du würdest dich wundern, wie nah wir dem E-Dezernat sind. Auch ohne das Möbiuskontinuum ist es nun nicht mehr weit.«
Ah!, machte Korath. Schon wieder Liz. Sie geht dir nicht aus dem Kopf. Deshalb bist du nach London gekommen.
Unschlüssig zuckte Jake die Schultern. Dann jedoch sagte er, wenn auch widerstrebend: »Nein, das kommt eindeutig nicht infrage. Es war nur so ein Gedanke, mehr nicht. Beziehungsweise, natürlich denke ich an sie – wie könnte ich das leugnen, wo du es doch ohnehin weißt – aber auf die Komplikationen kann ich verzichten. Außerdem muss ich nachdenken und habe einiges zu erledigen.«
Zum Beispiel?
»Zum einen gibt es da eine gewisse Nummer, die ich anrufen muss. Zum andern muss ich ein Überraschungspaket für ›Frankie’s Franchise‹ fertig machen.«
Oh?, meinte Korath. Gerade eben machtest du dir noch Sorgen um mein Verlangen nach unnötiger Gewalt! Vielleicht gelingt es mir ja doch noch, dich davon zu überzeugen, dass wir beide, du und ich, uns im Grunde ziemlich ähnlich sind.
Doch Jake schüttelte lediglich den Kopf. »Alles, was ich bisher getan habe – so kommt es mir vor – war mir vorherbestimmt. Ich hatte gar keine andere Wahl, als diesen Kurs einzuschlagen. Es ist fast so, als würde ich von irgendetwas zu dem, was ich tue, getrieben.«
Genau, sagte Korath. Und was ist mit mir? Glaubst du, ich wollte zum Vampir werden, Jake? Doch als ich dazu
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