ENTWEIHT
Beamte sie abholte. Dann konnten sie nirgends ein Taxi auftreiben und schließlich hatte auch noch der Zug Verspätung gehabt – wahrscheinlich als Folge des Problems, was auch immer es sein mochte, das nun die ganze Strecke lahmgelegt hatte. Anschließend hatten die Waggons so lange rüttelnd und dröhnend im Bahnhof gestanden, bis die meisten Fahrgäste ausstiegen und gingen. Und nun ...
… schrie sie leise auf, als der Absatz ihres linken Schuhs mitten auf dem Bahnsteig in einem Gitterrost stecken blieb und ihr der Schuh regelrecht vom Fuß gezerrt wurde.
Der Sicherheitsbeamte – ein großer, kräftig gebauter Mann in einem leichten Sommeranzug – sagte nur »na, na!«, als Millie auf einem Bein herumhüpfte. »Heute ist wohl nicht Ihr Tag, Schätzchen!« Er nahm sie am Arm, um ihr Halt zu geben, ließ sich auf ein Knie nieder und vermeldete: »Wie es aussieht, steckt Ihr Absatz – äh! – wirklich und wahrhaftig fest, fürchte ich.«
»Verdammt!«, entgegnete Millie heftig. »Was soll denn noch alles schief gehen?« Sie schaute den Bahnsteig entlang und fühlte sich verlassen, empfand sogar einen Anflug von Panik, als sie die letzten paar Fahrgäste missmutig in die diversen Gänge zu den Treppen und Aufzügen hasten sah. Der Zug rollte bereits rückwärts wieder aus dem Bahnhof.
Ein Stück weit entfernt kletterte ein schmuddeliger, kleiner Mann – ein äußerst kleiner Mann, um nicht zu sagen: ein Zwerg – auf eine Bank und langte mit etwas, das wie ein Rohrschneider aussah, nach oben zu den an der gefliesten Krümmung der gewölbten Tunneldecke verlaufenden Stromkabeln. Was um alles …?
»Na also«, sagte Millies Aufpasser. »Da haben wir den Burschen. Ich wollte den Absatz nicht abbrechen. Das war’s.« Doch als er sich mit dem Schuh in der Hand wieder erhob, bemerkte er, wie der verwirrte Ausdruck auf dem Gesicht seines Schützlings einem Stirnrunzeln wich, und bekam mit, wie Millie hörbar die Luft einzog, als ihre telepathischen Sonden auf fremde Gedanken im psychischen Äther stießen.
Mein Lord, flüsterte eine sinistre Stimme in Millies Kopf. Dein Sabotage-Plan hat funktioniert. Sie ist hier! Und wir haben Glück. Bis auf einen einzigen Mann ist sie allein!
Millie riss die Augen weit auf, während gleichzeitig ihr Kopf herumruckte, um den Bahnsteig in die andere Richtung zu überblicken. Zwei Nonnen in schwarzen Kapuzengewändern standen dort, standen einfach nur da und beobachteten sie. Im Schatten der Hauben wirkten ihre Augen wie gelbe Lichtpunkte. Die düstere, hässliche Nachricht stammte von einer der beiden!
Noch während Millie die Hand vor den Mund schlug, erscholl die Stimme erneut: Mein Lord, kannst du mich hören? Fragend legte eine der Nonnen den Kopf auf die Seite.
Doch der nächste Gedanke, den Millie vernahm, kam von jemand – beziehungsweise etwas – gänzlich anderem:
Ja, ich höre dich, sagte eine gurgelnde, klebrige telepathische Stimme in Millies Geist. Und sie auch, nehme ich an! Aber sage mir – ist es dunkel?
Millies Aufpasser erblickte den kleinen Mann ebenfalls – und den Funkenregen, der auf die Bemühungen des Zwerges mit dem Rohrschneider folgte. »Was in drei Teufels …?«
Im nächsten Moment ging das Licht aus und es wurde stockfinster – allerdings erst nachdem Millie den Kopf herumgerissen, den Blick in Richtung der neuen, völlig fremdartigen Gedankenstimme gewandt und auf den Rost zu ihren Füßen hinab gestarrt hatte. Sie wusste, dort unten hatte sie etwas gesehen … eine gleitende Bewegung in der ungewissen Düsternis des Wartungsschachtes, so als wäre der Schlamm dort unten lebendig.
Der Rost unter ihren Füßen wurde angehoben, sodass sie der Länge nach hinschlug. Sie hörte, wie ihr Begleiter vor Überraschung und Wut aufschrie, als er von ihr weggeschleudert wurde. Im selben Augenblick glitten die Nonnen mit den tierhaft gelben Augen aus dem Dunkel und stürzten sich auf sie. Ihre Hände schlossen sich mit eisernem Griff um Millie und zerrten sie hoch.
Etwas Schwarzes – weitaus schwärzer als die Finsternis – erhob sich vor ihr, quoll schier endlos aus der Unterwelt, und erneut vernahm sie die Stimme in ihrem Kopf: Seht zu, dass ihr sie nicht verletzt. Sie ist meine Beute, meine Geisel, und ich will sie unversehrt.
Als Millie schließlich die Augen sah und die pechschwarze, formlose Gestalt, war ihr klar, wen sie vor sich hatte. Und als ihr schlimmster Albtraum die Hand nach ihr ausstreckte, sank sie in Ohnmacht.
Danach
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