ENTWEIHT
gezielten Art, daran, wie der Wachtposten über die Mauer geblickt und dabei den Kopf von einer Seite zur andern gedreht hatte, so als ließe er den Blick langsam über das raue, allmählich ansteigende Gelände in Jakes Richtung schweifen. Darum hatte Jake Deckung gesucht – aus Furcht, entdeckt zu werden! Doch wie sollte ihn jemand mitten in der Nacht sehen? Vielleicht hatte der Kerl ja doch ein Nachtsichtgerät, aber davon ging Jake nicht aus. Und die Härchen in seinem Nacken kribbelten noch immer.
Durch Jakes Augen hatte Korath mitbekommen, was Jake gesehen hatte, und er spürte auch dessen Besorgnis. Hier stimmt etwas nicht, sagte er. Die Atmosphäre dieses Ortes scheint mir seltsam vertraut. Und das liegt nicht bloß daran, dass wir schon einmal hier waren. Offen gesagt, es gefällt mir ganz und gar nicht.
»Dir nicht und mir ebenso wenig«, flüsterte Jake. »Eigentlich sollten wir machen, dass wir von hier wegkommen. Das spürte ich schon beim letzten Mal, als wir hier waren. Aber ich muss da rein, wenn ich die Sache zu Ende bringen will. Und ich will es endlich hinter mich bringen.«
Ja, das weiß ich bereits, sagte Korath. Und da ich es dir nicht auszureden vermag, hast du meine volle Unterstützung. Aber trotzdem sage ich dir, an diesem Ort lauern Gefahren, von denen wir noch gar nichts ahnen.
Jake nickte und schob sich in eine bequemere Position, von der aus er wieder zwischen den Felsen hindurchspähen konnte. Schließlich erwiderte er: »Nach wie vor gilt das alte – oder sollte ich lieber sagen: neue – Sprichwort: Wenn du im Leben vorsichtig warst ...«
Das musste ich sein, unterbrach Korath ihn, um in Malinaris Diensten zu überleben. Nun (ein totes Achselzucken), jedenfalls solange ich am Leben war.
»... wirst du es auch im Tod weiterhin sein«, führte Jake seinen Satz zu Ende.
Aber diesmal ist es anders, versuchte Korath zu erklären. Völlig anders sogar. Dieses Anwesen ist … zu ruhig. Nein, zu un ruhig! Ja, selbst die zahllosen Toten schweigen hier!
Jake erinnerte sich daran, was Humph ihm in der Nähe der ursprünglichen Manse Madonie erzählt hatte. »Dies hier ist Sizilien«, sagte er. »Und wie ich dir eben ins Gedächtnis rief, tun die Toten, was sie im Leben taten, auch ...«
Und ich sage dir, ereiferte sich Korath, dass es sich hier anders verhält! Weshalb hörst du mir nicht zu, Jake? Du spürst es bestimmt doch auch selber? Die Stille hier ist … absolut! Sagte ich dir nicht, dass ich die Toten in ihren Gräbern belausche? Aber hier geht das nicht. Oh, schon möglich, dass sie im Moment gerade uns belauschen, aber sie sagen nichts. Sie reden überhaupt nicht – noch nicht einmal untereinander!
Und nun, als Jake zusah, wie der graue, menschenähnliche Klecks wieder von der Mauer hinunterstieg und seinen Streifgang zwischen den Olivenbäumen fortsetzte, bemerkte auch er es – das völlige Schweigen im Äther der Totensprache. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er sich bereits so sehr an das Geflüster der Toten gewöhnt hatte, dass er sich schon wirklich darauf konzentrieren musste, um es nicht bloß als Hintergrundrauschen in den Rezeptoren seines metaphysischen Geistes wahrzunehmen.
Doch hier fehlte sogar dieses Rauschen, fast so als hielten die zahllosen Toten den Atem an ...
Genau, meinte Korath. So als warteten sie auf etwas. Womöglich darauf, dass du dich zu ihnen gesellst? Ich hasse es, so morbide zu klingen, Jake, aber deine Zukunft erscheint mir nicht gerade glänzend.
»Meine Zukunft?«, sagte Jake, indem er das Nachtsichtgerät senkte. Und noch einmal, nun jedoch nachdenklicher, mit einem Stirnrunzeln. »Meine Zukunft ...«
Eh?, machte Korath, unfähig, Jakes Gedanken, die noch gar nicht richtig Gestalt gewonnen hatten, zu lesen.
»Vergangenheit und Zukunft!«, flüsterte Jake. Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, aber allmählich fing sein toter Begleiter an, zu begreifen.
Du hast vor, durch eine Tür in der Zukunft zu blicken, sagte Korath. Du willst deinen blauen Lebensfaden zurückverfolgen, um zu sehen, ob du das hier überlebst … oder was auch immer. Wovon wiederum dein nächster Schritt abhängen wird.
Doch Jake schüttelte den Kopf. »Die Zukunft ist eine trügerische Angelegenheit und kann einen auch rasch in die Irre führen. Harry Keogh riskierte kaum je einen Blick in die Zukunft, und schon gar nicht auf Einzelheiten. Aber die Vergangenheit ist da, und dort wird sie auch bleiben, für immer unveränderlich. Vor dem, was bereits
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