ENTWEIHT
geschehen ist, braucht man sich nicht zu fürchten, man kann es ja ohnehin nicht ändern.«
Die Zukunft auch nicht, entgegnete Korath. Diesen Gedanken lese ich kristallklar in deinem Geist.
»Ebendeshalb wage ich es ja nicht, auch nur einen Blick in die Zukunft zu werfen«, sagte Jake. »Denn würde ich das tun, würde ich wahrscheinlich doch versuchen, sie zu ändern, und die Zukunft ...«
… würde es dir übelnehmen und deinem Versuch widerstehen?, sagte Korath.
»Etwas in dieser Art, ja«, nickte Jake. »Aber was vergangen ist, ist vorbei und könnte uns helfen zu verstehen, womit wir es zu tun haben. Also spule deine Zahlen ab, dann gehen wir runter zum Tor dieses Anwesens.«
Zum Haus? Aber dort werden sie dich sehen!
»Nein, dazu werden wir nicht lange genug dort bleiben. Aber ich will wissen, wer – wie viele Leute – in der unmittelbaren Vergangenheit durch dieses Tor gegangen sind. Und der einzige Ort, an dem ich die Antwort darauf finden kann, liegt in der Vergangenheit! Nähe, Korath! Wenn jemand durch dieses Tor gegangen ist, wird sich sein Lebensfaden in der Möbiuszeit zeigen.«
Während Jake dies erklärte, machte er Gebrauch von seinem Nachtsichtgerät, wählte eine Stelle unterhalb der Mauer dicht am Tor aus und vergewisserte sich, dass sich keiner von den verschwommenen grauen Klecksen in der Nähe befand.
Sich an die Koordinaten zu begeben, die Jake ausgesucht hatte, dauerte, wenn überhaupt, nur einen Moment, und einen weiteren, bis Korath seine Ziffern erneut abgespult hatte.
Beim Eintritt ins Möbiuskontinuum kehrte Jake sofort an die Koordinaten einer in die Vergangenheit führenden Tür zurück. An deren Schwelle befanden sie sich noch im JETZT, doch in weiter Ferne erstrahlte glänzend der blaue Nebel des Ursprungs der Menschheit. Davon ausgehend wanden sich Myriaden leuchtender Fäden bis hin zur Tür. Und einer dieser Fäden hatte im Querschnitt menschliche – und zwar Jakes – Gestalt. Auf der Schwelle verschmolz er mit ihm und schien ihn regelrecht vorwärtszuschieben.
Meine Vergangenheit, sagte Jake, sich der Tatsache bewusst, dass im Möbiuskontinuum selbst Gedanken Gewicht hatten und man Sprache nicht brauchte. Man braucht nur weit genug zurückzugehen und alles, was ich bin, was ich jemals getan habe, wird sich irgendwo entlang dieses Fadens finden.
Auch ich hatte einmal so einen Faden, sagte Korath. Seine Totenstimme klang ziemlich leise.
Der zu einem jähen Ende kam, als Malinari und Konsorten dir die Knochen brachen und dich in jenes Rohr unter dem rumänischen Kinderheim stopften, sagte Jake. Solltest du durch diese Tür stürzen, würdest du dich dort wiederfinden, in jener Senkgrube, und könntest alles, was dir widerfuhr, seit du dort dein Leben aushauchtest, noch einmal »erleben«, immer und immer wieder, in alle Ewigkeit. Mein Faden hingegen ist eine Lebenslinie – im wahrsten Sinne des Wortes –, der wir in die Vergangenheit folgen und an der wir, wenn ich erfahren habe, womit wir es eigentlich zu tun haben, auch wieder ins JETZT zurückkehren können.
Korath wirkte nervös. Bist du dir dessen sicher, Jake? Ich meine, dass wir unversehrt wieder zurückkommen können? Du hast doch nicht etwa vor, da draußen irgendeinen Zwang auf mich auszuüben ... oder?
Ja, dessen bin ich mir vollkommen sicher, erwiderte Jake mit all der Autorität des ursprünglichen Necroscopen. Und, nein, es würde mir nicht im Traum einfallen, dich da draußen zu irgendetwas zu zwingen. Denk’ doch mal nach, Korath. Heute Nacht brauche ich dich mehr denn je!
Natürlich, seufzte Korath erleichtert. Natürlich brauchst du mich.
Ohne lange zu überlegen (hätte er das getan, hätte er es womöglich bleiben lassen), stürzte Jake sich durch die Tür in die Vergangenheit und reiste vermittels reiner Willenskraft im Zeitstrom zurück. Die blauen Fäden, Spuren, die Menschen hinterlassen hatten, schienen immer schneller zu werden, während sie auf ihn zu kamen, und das wie von einem Engelschor stammende lang gezogene Ahhhhhhhh erscholl – wie ein zeitgewordener Dopplereffekt – in immer höherer Tonlage, während Jake der jüngsten Vergangenheit entgegenraste.
Genau da erfuhr er endlich die Wahrheit!
Einige der blauen Fäden, die, offensichtlich auf Kollisionskurs, auf ihn zugesaust kamen, veränderten mit einem Mal ihre Farbe. Ein gutes Dutzend von ihnen, die zunächst nur leicht rosa angehaucht waren, verloren rasch ihren leuchtend blauen Farbton, wurden dunkler, zu einem
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