ENTWEIHT
überrascht über Trasks Tonfall. Doch dann fing er sich wieder. »Und er brüllt mich auch nicht an«, schnauzte er zurück. »Außerdem scheint mir, er ist hier ebenso fehl am Platz wie ich! Also, was willst du noch hören?«
Lardis war ein Szgany: ein Sonnseiter, Traveller, Zigeuner. All diese Bezeichnungen bedeuteten so ziemlich ein und dasselbe. Allerdings war er ein Zigeuner aus einer fremden Paralleldimension, der Vampirwelt von Starside – Heimat der Wamphyri!
Er war nicht sehr groß, vielleicht einsachtundsechzig oder einssiebzig, hatte einen breiten Brustkorb und kräftige Arme, die so lang waren, dass er beinahe wie ein Affe wirkte. Sein strähniges, schwarzes Haar wurde allmählich grau. Es umrahmte ein zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht. Seine Nase war ihm früher einmal gebrochen worden und saß schief über einem Mund, in dem zu viele Zähne fehlten; und diejenigen, die ihm noch geblieben waren, waren unebenmäßig und fleckig wie altes Elfenbein. Die dunklen, braunen Augen unter den buschigen Brauen zeugten, den immer näher rückenden Altersgebrechen zum Trotz, von der Gewandtheit seines Verstandes.
Wenn er ging, war es, als würden Glöckchen bimmeln – er war eindeutig Zigeuner, selbst in Jeans, einem modernen Hemd und Cowboystiefeln, vielleicht sogar gerade wegen der Stiefel – und doch hatte der alte Lidesci etwas Respekteinflößendes an sich. Und das zu Recht, denn lange Zeit war Lardis ein Stammesführer gewesen; und wenn, falls die Dinge auf der Sonnseite in Ordnung kamen, würde er seinen Stamm wieder anführen ...
»Huh!«, machte Trask. »Erst Millie, und jetzt du. Wie es aussieht, brülle ich den ganzen Tag nur herum!«
Lardis zuckte die Achseln. »Keine Ent..., äh, Entsch... äh ...«
»Entschuldigung«, sagte Millie.
»Genau!«, meinte Lardis. Mit der Sprache fand er sich noch immer nicht ganz zurecht. »Es ist bloß die Un..., äh, Untät igkeit – mehr nicht. Das macht mir zu schaffen. Aber ich bin ja aus freien Stücken hier, darum steht es auch mir nicht zu, einfach so rumzubrüllen. Eigentlich müsste ich dankbar sein, und sei es auch nur um Lissas willen. Huh! – aber sie ist ebenfalls völlig aus dem Häuschen! Sie sorgt sich um das, was auf der Sonnseite vorgeht.«
»Jetzt haben wir beinahe zehn Uhr nachts«, sagte Trask. »Den ganzen Tag habe ich auf dich gewartet.«
»Aber das hättest du mich doch wissen lassen können«, meinte Lardis. »Du kannst doch nicht erwarten, dass ich den ganzen Tag lang nur rumlaufe und überlege, wie ich mich nützlich machen kann. Ich sah meinen Namen auf einem Zettel von dir am Schwarzen Brett; wenigstens so viel habe ich lesen gelernt! Ich dachte mir, wenn es wichtig wäre, würde es mir schon jemand sagen. Ich wollte nicht fragen, damit keiner merkt, wie dumm ich bin. Niemand sagte etwas, deshalb ging ich davon aus, dass es nicht weiter von Bedeutung sei. Und wo wir gesteckt haben: Wir waren im Park, im Britischen Museum und im Kino!«
»Im Kino?« Ungläubig schüttelte Trask den Kopf. »Du hast dir mit Jake einen Film angesehen?« Wütend fügte er hinzu: »Dann hätte er es dir doch sagen können – aber wahrscheinlich hält er genauso wenig davon, Anweisungen zu lesen!«
»Mit Lissa und Jake Cutter, aye«, nickte Lardis. »Lissa und ich, wir sind schon seit drei Jahren hier, Ben Trask, auf der Sonnseite wären das einhundertfünfzig Sonnaufs, und wir waren noch nie im Kino! Na ja, es hat mir gefallen. Ein Klassiker, sagt Jake, den sie neu aufgelegt haben, was auch immer das heißt. Jedenfalls geht es um ein Schiff, das sinkt, und eine Menge Leute ertrinken. Es ist eine wahre Geschichte, nur einige der Leute waren imag..., äh, imag...?«
»Imaginär?«, half Trask ihm weiter.
»Aye, das ist es. Der imaginäre Held stirbt im eiskalten Wasser, nachdem er seine Geliebte gerettet hat. Ich frage dich, was ist das denn für eine Geschichte, wenn der Held nach der ganzen Mühe einfach ertrinkt? Meine Lissa musste fürchterlich weinen!«
»Titanic«, meinte Trask gelangweilt.
»Ja, genau!«, sagte Lardis. Und nach einem Moment: »Also, weshalb wolltest du mich sehen? Und was regt dich so auf?«
Er ist völlig unbedarft, dachte Trask. Nein, ein Barbar, ein rauer Bursche, wie es ihn im richtigen Leben eigentlich gar nicht gibt, ein illegaler Einwanderer aus einer Paralleldimension. Und doch absolut unschuldig. Denn es gibt nichts, was man Lardis Lidesci vorwerfen könnte.
Laut hingegen sagte er: »Heute Nachmittag hatte ich
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