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Enwor 1 - Der wandernde Wald

Enwor 1 - Der wandernde Wald

Titel: Enwor 1 - Der wandernde Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Halt.
    Irgend etwas Kleines, Pelziges stob quiekend davon, als er die Hände ausstreckte und nach einer bequemeren Position suchte. Skar erhaschte einen flüchtigen Blick auf große, feuchtschimmernde Augen, einen buschigen Schweif und winzige fünfzehige Krallen, die fast wie kleine Hände aussahen und dem Tier ein bedrückend menschliches Aussehen gaben.
    Skar starrte sekundenlang mit klopfendem Herzen auf die Stelle zwischen den Blättern, an der das Baumwesen aufgetaucht war. Dann lächelte er. Er war nicht einmal auf die Idee gekommen, daß der Baum bewohnt sein könnte. Er hatte Glück gehabt. Nicht jeder Bewohner dieser grünen, undurchdringlichen Ebene hoch über dem Waldboden mochte so harmlos sein wie dieser kleine Kerl eben. Der Vorfall zeigte ihm deutlich, wie weit er noch davon entfernt war, seine normale Form wiedergefunden zu haben. Normalerweise wäre ihm ein so grober Schnitzer nicht unterlaufen. Nicht einmal Del hätte sich so leichtsinnig verhalten. Vorsichtiger geworden, blieb er eine volle Minute lang reglos in der Astgabel hocken und lauschte mit geschlossenen Augen. Der Baum war erfüllt von vielfältigen Geräuschen — Blätter rieben sich raschelnd aneinander, Äste bogen sich unter der sanften und doch machtvollen Hand des Windes oder ächzten unter dem Gewicht seines Körpers. Irgendwo knackte etwas, leise, monoton und fast zu regelmäßig, um noch natürlichen Ursprungs zu sein, und es dauerte lange, bis Skar das Geräusch identifizieren konnte: Wasser; das auf einen Zweig tropfte.
    Mit einem entschlossenen Ruck griff er nach oben und zog sich auf den schwankenden Halt eines überhängenden Astes hinauf. Blätter fuhren raschelnd über sein Gesicht und seine nackten Schultern; ein angenehmes und beinahe sinnliches Gefühl wie das Streicheln samtiger Finger. Er verharrte einen Moment auf seinem unsicheren Halt, löste dann vorsichtig die Rechte vom Ast und schob sich behutsam höher. Der Stamm schien unter seinem Gewicht zu vibrieren, sich zu schütteln und leise und unwillig zu stöhnen, als wäre der Baum ein lebendiges Wesen, das den Fremdkörper abzuschütteln versuchte.
    »Skar?« Dels Stimme drang nur gedämpft durch das dichte Blattwerk hinauf. Trotzdem hörte Skar den besorgten Unterton darin. »Alles in Ordnung da oben?« Skar schüttelte unwillig den Kopf. »Es wird nicht mehr lange so bleiben, wenn du weiter den halben Wald zusammenbrüllst«, gab er schärfer zurück, als nötig gewesen wäre. In dem schattigen, gedämpften Schweigen des Waldes mußten Dels Worte meilenweit zu hören gewesen sein.
    Er hangelte sich weiter nach oben und stieß schließlich mit Kopf und Schultern durch die Blätterdecke.
    Der Anblick war überwältigend.
    Rings um ihn herum erstreckte sich eine wellige, von dunklen Schattentälern durchzogene See an Grün in allen nur denkbaren Schattierungen. Der tiefhängende Sternenhimmel verschmolz irgendwo im Westen mit dem Wald, und die Blätter schienen das Licht nicht zu reflektieren, sondern aufzusaugen. Skar stemmte sich ein Stück weiter nach oben und drehte den Kopf. Sie waren bereits tiefer in den Wald vorgedrungen, als er geglaubt hatte — die dünne, safrangelbe Linie der Wüste war nur noch als schmaler Strich vor dem nahegerückten Horizont zu erkennen; wenig mehr als die bereits halb verblaßte Erinnerung an einen Alptraum, der mit jeder Sekunde weniger real erschien. Er begann sich langsam im Kreis zu drehen, um einen möglichst umfassenden Eindruck von ihrer Umgebung zu erhalten. Der Wald mußte gewaltig sein —die dünne Wüstenlinie im Westen stellte die einzig sichtbare Begrenzung dar, in allen anderen Richtungen verschmolz der erstarrte grüne Ozean mit dem Himmel oder verlor sich irgendwo in unbestimmbarer Entfernung in wogenden Schatten. Ihre Vermutung, es mit einer, wenn auch gewaltigen, Oase zu tun zu haben, war falsch. Dies hier war das Ende der Nonakesh, eine gewaltige, von Leben strotzende Landschaft, die vor ihnen vielleicht noch kein Mensch betreten hatte. Diese oberste Ebene des Waldes war flach. Es gab schmale, an mit mathematischer Akribie gezogene Kanäle und Schluchten erinnernde Zwischenräume, die Flußläufe oder Lichtungen darstellen mochten, aber die Bäume schienen ausnahmslos in der gleichen Höhe gewachsen zu sein. Ein Umstand, der seinen Verdacht bestätigte. Die Gewaltigkeit des Waldes ließ den Gedanken zwar fast erschreckend erscheinen, aber er war zu regelmäßig, um noch natürlich zu erscheinen.
    Skar

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