Enwor 1 - Der wandernde Wald
Überleben nicht gestattete, mußte man sie verändern oder — wo dies nicht ging — ein Stück seiner normalen Welt mitnehmen. Und so war Cearn zu einer gigantischen, wandernden Insel geworden, einer riesigen Oase, die sich mit dem von der Natur vorgegebenen Tempo ihres Wachstumes durch die Wüste vorwärts bewegte, hundert Meter in zehn Jahren, eine Meile in zwei Generationen. Mit einemmal ergab alles einen Sinn — der tote Wald, ein Stück Gelände, das der Wüste zurückgegeben worden war, um durch einen ebenso breiten Streifen diesseits Cearns ersetzt zu werden, die Schneisen, die sich in regelmäßigen Abständen durch den Wald zogen, die Orte markierend, an denen vorher die Dünen den Ansturm der Wüste gebremst hatten, der seltsam regelmäßige und manchmal parkähnliche Charakter des Waldes.
Ihr
Götrer!dachte er.
Dieserganze Wald bewegt sich! Cearn ist keine Oase, sondern ein ungeheuerliches, lebendes Wesen, das sich durch diese Wüste bewegt und seine Bewohner zurückbringt, wo sie einst hergekommen sind!
Ein tiefes, vibrierendes Summen begann sich plötzlich aus der Reihe der Cearner zu erheben, ein Ton, der auf eigentümliche Weise zu der stummen Majestät der Wüste vor ihnen paßte, ihr Schweigen bestätigte, statt es zu durchbrechen, nicht Protest, sondern Huldigung, die Huldigung einer Macht, gegen die man zwar kämpfen, aber niemals siegen konnte. Der Ton wurde lauter, schwoll zu einem mächtigen, dröhnenden Rauschen an und verklang, um wenige Augenblicke später erneut einzusetzen.
Dann begann der Gesang.
Zuerst waren es nur wenige Stimmen, die sich in das dumpfe Raunen und Summen mischten und eine schwermütige, dunkle Melodie dazu sangen, dann mehr und mehr und immer mehr, bis der Wald und die Wüste widerhallten vom kräftigen Gesang aus fünfhundert Kehlen, von dunklen Worten voller Trauer, Worte, die Skar nicht verstand, deren Klang aber irgend etwas in ihm anzurühren schien, obwohl oder vielleicht gerade weil er sie nicht verstand. Es war ein Trauergesang, aber ein Trauergesang, der nicht resignierend, sondern trotz allem optimistisch war, in dem die Cearner ihren Toten Hoffnung statt Verzweiflung mit auf den Weg gaben, der aussagte, daß für diese Menschen der Tod eine völlig andere Bedeutung hatte als für ihn: nicht Ende, sondern vielmehr Anfang, der der erste Schritt in eine bessere, andere Welt war, eine Welt ohne Angst und Schmerzen, ohne Haß und Kampf. Er erinnerte sich wieder, daß Coar auf jener Lichtung nicht von Tod, sondern von Erwachen gesprochen hatte, und jetzt begriff er auch, warum.
Der Gesang brach ab, und für Sekunden legte sich eine große, schwere Stille über die Wüste. Dann glomm ein heller, im dunklen Schwarz der Nacht beinahe schmerzhaft greller Funke auf und wuchs zum prasselnden Flammenspiel einer Fackel heran, der rasch eine zweite, dritte, vierte und fünfte folgten. Skar bemerkte, wie Coar sich bewegte, und wandte verstohlen den Blick.
Coar war einen halben Schritt vorgetreten und verharrte nun mit gesenktem Kopf und unter dem Kinn gefalteten Händen. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck angespannter Konzentration. Ihre Lippen formten lautlose Worte.
Der Mann zu seiner Rechten trat beiseite und berührte ihn sanft an der Schulter. Skar trat ebenfalls zurück und blieb stehen, als der Cearner ihn ein zweites Mal anstieß. Wieder erhob sich Gesang aus zahlreichen Kehlen, aber es war ein anderes Lied diesmal, eine schwermütige, getragene, auf- und abschwellende Melodie, die Skar, je länger er lauschte, mehr und mehr an das regelmäßige Schlagen eines gigantischen ruhigen Herzens erinnerte. Die Fackelträger traten nun vor und bildeten ein stummes Spalier zu beiden Seiten der Kommandantin. Ihre Schritte lagen genau im Rhythmus des Gesanges, und selbst das Flackern der Flammen schien sich dem sanften Auf und Ab des Singsanges anzupassen. Coar hob in einer langsamen, betenden Geste die Hände zum Himmel. Zwischen ihren Fingern schimmerte ein kleiner silberner Gegenstand.
Wieder brach der Gesang ab, aber dafür begann im Wald hinter ihnen eine Trommel einen dumpfen, gleichmäßigen Rhythmus zu schlagen. Coar senkte die Arme und sah sekundenlang reglos zu Boden. Dann begann sie den jenseitigen Hang hinunterzugehen, begleitet von den Fackelträgern und dem Rhythmus der Trommeln, der nun lauter, fordernder zu werden schien.
Coar kniete nieder. Der sanfte Schimmer der Fackeln bildete einen weiten, nach der Wüste hin
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