Enwor 11 - Das elfte Buch
wurmgleich aus der Tiefe in sein Bewusstsein empor, ein leises Flüstern, das zur donnernden Gewissheit wurde und ihn durchpulste, als wäre das brennende Schuldgefühl nichts weiter als eine belanglose Nebensächlichkeit. Einen kurzen Augenblick lang versuchte er es niederzukämpfen und zu leugnen, doch dann streckte er die Waffen vor der unbestreitbaren Tatsache, dass er nicht sicher sein konnte, ob er in einer ähnlichen Situation nicht wieder so handeln würde. Es war etwas in ihm, etwas, das ihn als einen willenlosen Spielball betrachtete, und wenn er dieser Gewissheit ihren unausweichlichen Platz einräumte, folgte eine andere: dass er keine Ahnung hatte, was da mit ihm geschah und dass er noch weniger wusste, wie er dem Einhalt gebieten konnte.
Er schauderte. Ein Gefühl eisiger Kälte durchflutete ihn und ganz plötzlich hatte er Angst, panische Angst. Er wusste, dass er dieses fremde Etwas eingeschlossen halten musste, dass er lernen musste es zu kontrollieren, da es sonst nicht nur ihn, sondern noch weit mehr vernichten würde: vielleicht nicht nur ein paar wenige Menschen, sondern etwas, was das labile Gleichgewicht Enwors endgültig zerstören würde.
Er hatte keine Wahl, er musste sich der Auseinandersetzung stellen; nichts außer seiner Vergangenheit, keine einzelne Erfahrung hatte ihn auf eine solche Situation vorbereitet, konnte ihm einen Hinweis darauf geben, wie er sich zu verhalten hatte — nach einem kaltblütigen Mord. Es mochte Gründe geben, dass sein Instinkt (oder was er dafür hielt) ihn so hatte handeln lassen und möglicherweise gab es einen größeren Zusammenhang, der ihn irgendwann würde begreifen lassen, dass diese unmenschliche Tat ihren ganz eigenen Sinn gehabt hatte und letztlich damit richtig gewesen war.
Aber das war Blödsinn. Jeder Mensch hatte eine Grenze, eine allerletzte Barriere, die zu überwinden bedeutete, alle Selbstachtung zu verlieren und sich einem alles verschlingenden Sog auszuliefern. Er war sich durchaus bewusst, dass ihn eine Kraft antrieb, die stärker war als er selbst, und dass sie ihn den Pforten des Irrsinns und des Todes entgegentrieb, nun, nachdem er seine Grenze soeben überschritten hatte — aber das wusch ihn nicht frei von der Schuld, die er auf sich geladen hatte.
Trotzdem — er konnte hier nicht einfach stehen bleiben in dieser gewaltigen, von einer natürlichen Kuppel überspannten Höhle. Er musste tun, was getan werden musste.
Obwohl ihm allein die Vorstellung großen Widerwillen bereitete, schob er seinen Oberkörper weiter vor, sodass er ungehindert hinabblicken konnte — so weit an das Unbeschreibliche heran, das sich vor ihm auftat, wie er es wagte, ohne vom Sog der Tiefe hinabgerissen zu werden. Je näher er rückte, umso weniger verstand er, was er sah, und noch viel weniger verstand er, welchen Sinn dieser abstruse Schacht hatte, der sich wie ein Höllenschlund vor ihm in die klaffende Tiefe bohrte.
Im ersten Moment hatte er das Gefühl, dass vor ihm der Rand der Welt lag, das große Nichts, die Leere, aus der alles Leben kam und in die es zurückkehrte, ein Abgrund, Meilen um Meilen tief, um im Nirgendwo zu enden, in einer Tiefe, aus der es keine Wiederkehr gab. Soweit es die beiden Nahrak betraf, die er hinabgestürzt hatte, traf das ja auch zu. Aber möglicherweise nicht für das Gekrabbel, das er erst in diesem Moment bemerkte.
Und dann sah er auch, warum.
Das Loch dehnte sich zwar unendlich weit in die Tiefe aus, aber die Innenwand war bei weitem nicht so glatt, wie er im ersten Moment geglaubt hatte: Es taten sich zahllose unterschiedlich große und verschieden geformte Vorsprünge und Auswüchse auf, die nicht leer waren, sondern wimmelndes, kreuz und quer schleimendes Leben beherbergten. Zwischen den Vorsprüngen spannten sich schwarze Felswülste wie steinerne Adern, die in scheinbar willkürlichem Hin und Her nach unten führten und sich an vielen Stellen berührten, ohne sich aber regelrecht zu kreuzen; denn dort, wo sie aneinander stießen, glitten sie übereinander wie riesenhafte, bösartige Würmer, die mitten in der Bewegung erstarrt waren.
Auch auf diesen Wülsten waren die schauderhaften Auswüchse der
Khtaäm
am Werk; ein Wuseln, Krabbeln und Schleimen unterschiedlichster Kreaturen, die hin und her huschten, rauf oder runter, als seien die steinernen Adern nichts anderes als Pfade zwischen dieser merkwürdigen Ober- und einer noch viel unfassbareren Unterwelt. Es war ein Anblick, der ihm den Atem stocken
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