Enwor 11 - Das elfte Buch
bis ins Zentrum des Bösen.
Als ob das noch nicht reichen würde, brach die Erinnerung wie eine Woge über ihm zusammen und er sah sich zurückversetzt in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, auf ein Schlachtfeld, auf dem sich der Geruch des Todes mischte mit dem Gestank nach Schweiß, Urin und Blut, und er wusste, dass es eine dunkle Woge gewesen war, die sich in seinen letzten Lebensjahren über Enwor ergossen hatte und weitergeschwappt war, bis auf den heutigen Tag, die nicht eher ruhen würde, bis sie alles mit sich gerissen hatte. Vollkommen deplatziert überkam ihn die Erinnerung, ein Stück seiner Vergangenheit, das ihm wichtig war, aber nicht im Hier und Jetzt seinen Platz haben sollte, obwohl es doch entscheidend sein konnte und irgendetwas — vielleicht — mit dem zu tun hatte, was hier gerade passierte. Er starrte vor sich hin, ohne etwas anderes zu sehen oder zu hören als eine körperlose Stimme aus der Vergangenheit, die Satzbruchstücke ausspuckte, in denen von der
Sternenbestie
die Rede war und vom
Dunklen Bruder,
von einer
Kreatur, die voller Ungeduld darauf wartete, das Sternenfeuer zu entfachen…
»Es ist vorbei!«, hatte Kiina gesagt, Stunden vor seinem Tod, und sie hatte es immer wieder gesagt, als hätte sie gehofft, dass es dadurch Wahrheit würde, »Alles wird wieder
werden, wie es war. Du… du wirst doch wieder anders! Es ist doch vorbei! Es gibt keinen Grund mehr für dich, so… so… so anders zu sein!«
Er wusste, dass unmöglich dreihundert Jahre vergangen sein konnten, seit sie so mit ihm gesprochen hatte, und doch konnte es nicht anders sein, und in welcher Weise er auch an die Zeit dachte — es waren und blieben dreihundert Jahre, und nun, nach Jahrhunderten, stimmte es einfach nicht mehr, war es schief und verkehrt. Doch das Nachdenken darüber führte zu nichts, denn er hatte keine Ahnung, wie lange er noch dagegen ankämpfen konnte — gegen was auch immer es war, was in ihm die Herrschaft beanspruchte. Er sah das feine Gespinst des Kokons vor sich und spürte, noch bevor es wirklich geschah, die nach ihm greifenden Fäden in sich einsickern, und was immer ihn nun erwarten würde — er befand sich nach wie vor jenseits der Zeitbarriere, dutzende von Jahrzehnten von der jungen Kiina getrennt, die scheinbar alterslos hier überdauert hatte, und es gab keine Möglichkeit für ihn, wieder auf die andere Seite zu gelangen…
Nie mehr! Die allgegenwärtigen Fäden ließen jeden Zweifel daran verstummen und schließlich musste er einsehen, dass die in ihm schäumenden Erinnerungen nichts weiter waren als alter Ballast, der vielleicht — aber eben auch nur vielleicht — etwas mit der heutigen Situation zu tun hatte.
»Die Macht hat die ganze Zeit über in deiner Seele geschlummert, Skar. Es hat immer Männer wie dich gegeben, seit den Zeiten der Alten, und sie haben ihre Macht weitervererbt, meist, ohne auch nur zu ahnen, wer sie waren.«
Es war nicht Kiina gewesen, die das gesagt hatte, sondern Yul, eine
Errish,
die ihm im gleichen Atemzug das Geheimnis der Ehrwürdigen Frauen verraten hatte und noch mehr.
»Die Waffen der Alten sind mit ihrer Welt untergegangen, während die Sternengeborenen ihre Schöpfer überdauerten«, hatte sie gesagt. »Denn was sie schufen, war Leben. Leben,
das nur einem Zweck diente: zu töten.«
Aber was hatte das mit ihm und Kiina zu tun? Oder mit ihm selbst? Eine Erinnerung schoss durch seinen Geist, blitzschnell, aber nicht ohne Spuren zu hinterlassen.
Töten.
Nur ein Zweck. Töten.
… UND DASS ER UNSTERBLICH WAR, DENN ES VERMOCHTE SICH ALLEN NUR DENKBAREN VERÄNDERUNGEN ANZUPASSEN.
Töten — auch das hatte ihm die Errish gesagt.
Töten.
Aber er wusste nicht, was es mit ihm zu tun hatte und was
Nur ein Zweck
in diesem Zusammenhang zu bedeuten hatte. Es sei denn, er schaffte es, diese Spur aufzunehmen, diesen immer wieder abdriftenden Gedanken, dass er nur
einem Zweck diente: zu töten.
Als die logische Schlussfolgerung in Skars Bewusstsein drang, kämpfe er sie nieder und versuchte sie zu vernichten, doch sie wollte nicht sterben, sie wollte ihm zuschreien, dass er schuldig wäre… und er hörte wieder den Schrei, der plötzlich abriss, erst den einen und dann den anderen, bis die beiden Nahrak tot und zerschmettert unten bei der Brut lagen, die sich wahrscheinlich schon schmatzend und saugend über ihre Überreste hergemacht hatte.
Die Konsequenz war ungeheuerlich. War er nur geschaffen worden, um zu töten? Er presste
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