Enwor 2 - Die brennende Stadt
und hart geworden, aber er konnte den Vorrat an lebensspendenden Kugeln darin spüren, jede einzelne Ration Leben, sie und den Stein. Letzterer war klein, kaum größer als eine der Giftkugeln, hart und unscheinbar. Skar lauschte vergeblich in sich hinein, suchte nach einer Reaktion, einem Echo, nach irgend etwas. Aber da war nichts. Er wußte nicht, was dieser Stein bedeutete, welche Macht er — wenn überhaupt eine
- besaß, und er hatte es im Grunde nie wissen wollen. Es interessierte ihn nicht. Es interessierte ihn nicht, welche Macht Vela durch dieses kleine Stückchen Mineral erringen würde. Alles, was ihn interessierte, war sein und Dels Leben.
Jemand trat neben ihn und blieb reglos stehen, bis er den Blick hob. El-tra. Einer der beiden El-tras, ohne daß er hätte sagen können, welcher. Vielleicht gab es auch keinen Unterschied.
»Ja?« fragte er.
Der Schattenmann hob die Hand. »Dich bedrückt etwas, Geistbruder«, sagte er.
Skar unterdrückte ein Schaudern. Es war nicht die Wahl der Worte, die ihn — obwohl sie sonderbar genug waren — erschreckte. Aber der Sumpf mann sprach ihn mit seiner eigenen Stimme an ... »Bin ich das?« fragte er, ohne auf El-tras Frage einzugehen.
»Was?«
»Dein… wie hast du es genannt? Geistbruder?«
Der Sumpfmann zögerte sichtlich. »Nein«, sagte er dann. »Nicht so, wie du das Wort vielleicht verstehst. Aber eure Sprache ist so irreführend. Du gabst uns Leben. Etwas von dir ist in uns.«
»Ich weiß«, sagte Skar. »Aber ich könnte nicht behaupten, daß ich stolz darauf bin. Ihr habt euch den falschen Mann ausgesucht, El-tra.«
Nun war es der Sumpfmann, der nicht auf seine Worte einging.
Er schwieg eine Weile, ließ sich dann — Skars Haltung nachahmend
- neben ihm auf den Boden sinken, kreuzte die Beine und lehnte den Rücken gegen die Wand. Er sagte nichts, und Skar spürte, daß er auch nicht noch einmal von sich aus das Wort ergreifen würde. Aber Skar empfand plötzlich ein absurdes Gefühl der Dankbarkeit, Dankbarkeit dafür, daß jemand bei ihm war, einfach dasaß und nichts sagte, der zuhören, seine Verzweiflung und Müdigkeit teilen konnte.
Behutsam löste Skar den Lederbeutel von seinem Hals, öffnete ihn und nahm den Stein hervor. Das blaue Leuchten war mittlerweile ganz erloschen, und er erschien Skar mehr denn je wie ein gewöhnliches, schon etwas blind gewordenes Stück Glas. Er ließ ihn vorsichtig auf seine geöffnete Handfläche fallen, hielt ihn dicht vor das Gesicht und versuchte, einen Sonnenstrahl in den winzigen Facetten seiner Oberfläche aufzufangen. Es mißlang.
»Was ist das?« fragte er leise. Die Worte galten mehr ihm selbst als dem Sumpfmann, und El-tra antwortete auch nicht. »Wie viele Menschen sind dafür gestorben?« fuhr er fort. »Hunderte? Tausende? Welche Macht verleiht er seinem Besitzer?«
»Ich weiß es nicht«, sagte El-tra. »Niemand weiß das.«
»Nicht einmal Vela?«
»Nicht einmal Vela«, bestätigte der Sumpfmann. »Er kann alles bedeuten — oder nichts. Er ist ein Schlüssel, Skar, nicht mehr. Der Schlüssel zu einem Ding, das .. .« Er brach ab, und Skar wußte, daß er nicht weiterreden würde. Er hatte bereits mehr gesagt, als er gewollt hatte. Viel mehr.
»Schon gut«, murmelte Skar. »Ich werde es herausfinden, irgendwann.« Er schloß die Faust um den Stein, steckte ihn aber noch nicht zurück in den Beutel. Wieder lauschte er in sich hinein, suchte in den tiefsten Winkeln seiner Seele nach einem Echo, nach irgend etwas, das auf den glatten, kühlen Stein in seiner Hand reagierte. Aber da war nichts. Der Stein war tot.
»War er das alles wert?« fragte er. »War er es wert, daß so viele Menschen dafür starben?«
»Viele von euch sind für weniger gestorben«, antwortete El-tra ruhig. »Für eine Idee, einen Traum…« Er schwieg, breitete in einer bedrückend menschlich wirkenden Geste die Hände aus und ließ den Kopf gegen die Wand sinken. »Ihr überschätzt den Wert des Lebens«, sagte er. »Der einzelne zählt nichts, solange die Gemeinschaft weiter besteht.«
Skar lachte leise, aber es war ein Laut ohne Humor, eigentlich ohne jedes echte Gefühl.
»Was amüsiert dich daran, Satai?« fragte El-tra.
»Oh — nichts.« Skar setzte sich auf, ließ den Stein wieder in den Beutel gleiten und sah den Sumpfmann kopfschüttelnd an. »Ich frage mich, wie ein Wesen, das nicht einmal über eine eigene Identität verfügt, über das Schicksal eines Menschen philosophieren
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