Enwor 4 - Der steinerne Wolf
vieles klar. Das Gift mußte, während sie auf dem Weg hierher gewesen waren, bereits Andreds Gehirn erreicht und seine Sinne umnebelt haben. Es war nicht der Schock, der ihn hatte abstumpfen lassen. Und dieser Narr hatte nichts gesagt, wahrscheinlich aus Furcht, Skar mit seiner Verwundung noch mehr zu belasten. Skar schüttelte den Kopf, seufzte und fragte: »Kannst du ihn hierbehalten?«
»Andred?« Herger nickte, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen; eine Haltung, die nicht zu seiner Erscheinung paßte und unecht war. Er war nicht halb so gelassen, wie er vorgab. »Warum nicht? Er ist mein Freund.«
»Aber er wird auch gesucht«, sagte Skar. »Und ich werde mich kaum um ihn kümmern können. Ich muß fort.«
»Er ist sicher bei mir«, sagte Herger noch einmal. »Und du auch. Ich habe ein zweites Zimmer, hinten im Anbau. Du kannst dort schlafen, wenn du willst.«
Skar schüttelte den Kopf.
»Wenn es wegen Gondered ist«, sagte Herger, »so brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Mein Haus wäre wahrscheinlich der letzte Ort, an dem er euch suchen würde.«
»Es geht nicht um ihn«, sagte Skar. »Ich muß weiter.«
»Und was treibt dich zu solcher Eile?«
Skar nahm einen weiteren Löffel Suppe, ehe er antwortete: »Es ist besser, wenn du nichts weißt.«
»Mißtraust du mir?« Herger grinste. »Ich bin verschwiegen, Satai. Man kann sagen, ich lebe von meiner Verschwiegenheit —manchmal. Aber ich bin auch neugierig.« Er legte eine winzige, genau bemessene Pause ein und fuhr fort: »Immerhin gehe ich ein Risiko ein, wenn ich dir Unterschlupf gewähre. Du wirst gesucht.«
»Und auf meinen Kopf steht wahrscheinlich ein hübscher Preis«, fügte Skar hinzu.
»Wahrscheinlich«, bestätigte Herger ungerührt. »Aber ich hätte nicht viel davon, dich auszuliefern. Gondered würde mir das Geld sowieso bei der nächsten Gelegenheit wieder abnehmen. Außerdem — wer hat schon gerne einen Satai zum Feind?«
»Reicht dir Andreds Schicksal nicht?« fragte Skar ruhig. »Ich habe ihn ins Vertrauen gezogen. Du siehst, was ihm passiert ist.« Zu seiner Überraschung begann Herger leise zu lachen. »Der Mann mit dem Fluch«, sagte er. »Man hat mich gewarnt, daß du verrückt sein würdest.«
»So?« erwiderte Skar lauernd.
Herger nickte. »Ich weiß eine Menge über dich, Skar — sogar deinen Namen. Machen wir ein Geschäft — du sagst mir, was ich wissen will, und ich helfe dir weiter, wenn ich kann. Ich habe eine Menge Freunde in der Stadt.«
»Ich habe nicht vor, allzu lange in Anchor zu bleiben«, antwortete Skar kalt. Ihr Gespräch war schon lange keine harmlose Plauderei mehr. Herger wußte genau, was er wollte.
»Wo hast du von mir gehört?« führ Skar fort. »Und was?«
Herger zögerte einen Moment, stand auf und zog sich einen zersprungenen Korbsessel mit abgebrochener Lehne heran, um sich darauf niederzulassen. »Ich habe Freunde in der Stadt«, sagte er noch einmal. »Und einer von ihnen berichtete mir, daß er ein Gespräch zwischen diesem Hundsfott von Thbarg und einem seiner Offiziere belauscht habe. Sie haben Anweisung bekommen, auf einen Satai zu achten, der vielleicht versuchen würde, über Anchor in das Land zu gelangen. Einen Verrückten«, fügte er mit undeutbarer Betonung hinzu. »Man behauptet, du wärest hier, um eine
Errish
zu töten. Stimmt das?«
Es kostete Skar Mühe, sich seinen Schrecken nicht allzu deut-
lich anmerken zu lassen. Ein weiterer Punkt für Vela. Sie ließ ihn jagen, damit hatte er gerechnet. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Offenheit, mit der sie dabei zu Werke ging. Sie log nicht einmal, sondern verdrehte die Wahrheit nur ein ganz kleines bißchen. Nicht weit genug, daß irgend jemand außer ihr selbst und Skar die Veränderung wirklich bemerken konnte. Schließlich
war
er hierhergekommen, um eine
Errish
zu töten.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Ich bin vielleicht verrückt, aber so verrückt nun auch wieder nicht.«
»Warum bist du dann hier?« fragte Herger lauernd. »Und warum sucht dich die halbe Armee?«
»Ich ... suche wirklich jemanden«, gestand Skar nach kurzem Überlegen. Vielleicht war es das Beste, sich — für einen Moment wenigstens — Velas eigene Taktik zu eigen zu machen. Und hatte er nicht selbst — irgendwann, vor tausend Jahren und in einem anderen Leben — einmal zu Del gesagt, er solle sich, wenn es schon nötig war, zu lügen, so dicht wie möglich an der Wahrheit bewegen? »Aber es ist
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