Enwor 4 - Der steinerne Wolf
alle Mühe gab, unbeeindruckt auszusehen. Sein Blick irrte unstet über das Flußufer. Auf der anderen Seite des Stromes hatte der Schnee das Schlimmste zugedeckt; hier, einer willkürlichen Laune der Natur folgend, war die weiße Decke weniger fest. Überall lagen Tote — drei-, vielleicht vierhundert, und es waren nicht nur Krieger.
»Eine Schlacht«, murmelte Skar.
Herger schüttelte heftig den Kopf. »Das war keine Schlacht«, krächzte er. Seine Lippen zitterten. »Das war ... ein Gemetzel.« Skar schwieg. Herger sprach nur das Wort aus, das ihm die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte. Die Quorrl hatten sich bis zum letzten Mann — zum letzten Kind, verbesserte er sich in Gedanken — verteidigt. Sie mußten in der gewohnten Formation vorgerückt sein — die Krieger außen, einen weiten, drei- oder vierfach gestaffelten Kreis bildend, dahinter die Frauen; das machte bei Quorrl keinen so großen Unterschied; und ganz innen, geschützt von der Hauptmacht der Graugeschuppten, die Wagen mit den Alten und Kranken und Kindern. Ihre verkohlten Reste waren noch deutlich zu erkennen; ein niedergebrannter Scheiterhaufen aus verkohltem Holz und dunklen, zusammengebackenen Körpern, die einzeln nicht mehr zu erkennen waren. Ein paar von ihnen waren deutlich kleiner als die anderen. Es waren nicht einmal die Kinder verschont worden.
»Das ist...«
»Das ist Krieg«, sagte Skar hart. »Das, wovon ihr in Anchor beim Frühstück oder zwischen zwei Geschäfen redet, Herger. Das, was dich erwartet, wenn du länger bei mir bleibst.«
Herger fuhr mit einer abrupten Bewegung herum. Seine Augen waren weit und voller Angst. Skar hätte seine letzte Bemerkung am liebsten rückgängig gemacht. Vielleicht war jetzt der Augenblick gegeben, sich von Herger zu trennen. Skar war sicher, daß ein winziger Anstoß genügen würde — aber plötzlich wollte er es gar nicht mehr. »Entschuldige«, sagte er leise. »Ich ...«
»Warum haben sie das getan?« fragte Herger, als hätte er Skars Worte gar nicht gehört. »Warum —«
Skar lachte, leise, bitter und mit einer raschen, bestimmenden Handbewegung. »Die Kinder?« fragte er. »Du willst wissen, warum sie auch die Kinder und die Frauen und die Alten umgebracht haben?«
Herger schluckte ein paarmal hintereinander. Die Blässe in seinem Gesicht rührte jetzt nicht mehr allein von seiner Erschöpfung her.
»Auch aus kleinen Quorrl werden einmal Krieger«, fuhr Skar fort. »Krieger, die töten und plündern und ihrerseits neue Krieger zeugen.« Er sah, daß Herger unter seinen Worten wie unter einem Hieb zusammenzuckte, und setzte — etwas sanfter — hinzu: »Das sind nicht meine Worte, Herger. Und das ist es auch gar nicht, worauf es hier ankommt.« Er schwieg einen Moment, griff gedankenverloren nach den Zügeln seines Pferdes und begann das Tier hinter den Ohren zu kraulen. »Sieh dich ruhig um«, fuhr er fort.
»Du hast mich gefragt, warum ich Vela hasse, und hier siehst du die Antwort. Diese Krieger hier sind in Wirklichkeit keine Krieger, sondern Figuren, Spielsteine auf Velas Brett. Erinnerst du dich, was du gesagt hast? Dem Volk etwas geben, woran es seinen Zorn auslassen kann ...« Er schüttelte den Kopf und gab ein wütendes Geräusch von sich. »Das sagt sich so leicht, Herger. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Wahrheit, das ist Blut und Tod und Schrecken. Du —« Er brach ab, erschrocken über seine eigenen Worte. Herger konnte nichts dafür. Er war ebenso entsetzt über das, was hier geschehen war, wie er selbst, und für einen Moment war Skar in Gefahr gewesen, ihn zu behandeln, wie er es mit Gowenna getan hatte. Seinen Zorn auf ihn zu entladen. Aber das wäre zu billig gewesen.
»Vergiß es«, murmelte er. »Ich rede Unsinn. Du hast recht — es sind Quorrl. Sie wußten, was sie taten, als sie in dieses Land kamen.«
Aber hatten sie es wirklich gewußt? Hatte er gewußt, was er tat, als er Combat betrat oder den Wald von Cosh? Natürlich nicht. Und sowenig wie er hatten diese Quorrl gewußt, daß sie in Wirklichkeit nicht ihrem eigenen Willen gehorchten. Skar wußte nicht, wie Vela es bewerkstelligt hatte, aber er war plötzlich vollkommen sicher, daß sie dafür gesorgt hatte, daß die Quorrl-Armee im richtigen Augenblick die Grenzen dieses Landes überschritt. Einen besseren Vorwand, zu einem Krieg zu rüsten, konnte sie sich nicht mehr wünschen. Er wandte sich um, deutete mit einer Kopfbewegung auf die niedergebrannte Wagenburg im
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