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Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Titel: Enwor 4 - Der steinerne Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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toten Quorrl verwandelten sich in formlose graue Hügel. Skar schauderte. In Augenblicken wie diesem konnte er verstehen, daß sich Menschen wie Herger vor den Geistern der Toten fürchteten. Mit der Dunkelheit kam die Kälte, und Skar rückte näher ans Feuer heran. Die Flammen spendeten eine wohlige Wärme, und mit ihr kam die Müdigkeit.
    »War das dein Ernst, vorhin?« fragte Herger plötzlich. »Das mit der Wache?«
    Skar sah auf. Hergers Gesicht wirkte im flackernden Licht der Flammen noch müder als zuvor. Sein linkes Auge war entzündet und rot, was seinem Antlitz ein seltsam asymmetrisches Aussehen gab.
    »Vorhin nicht«, murmelte er. »Aber jetzt. Ich glaube, es ist besser, wenn wir abwechselnd Wache halten. Schon wegen ihm«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf den reglosen Quorrl hinzu.
    Sie hatten das Wesen so dicht ans Feuer herangezogen, wie es ging, und Skar hoffte, daß die wärmenden Flammen bald Wirkung zeigen würden.
    Herger folgte Skars Blick. Er schwieg eine ganze Weile, aber Skar konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
    »Was ich vorhin gesagt habe«, begann er stockend, »tut mir leid. Ich ...«
    Skar unterbrach ihn mit einem sanften Kopfschütteln. »Schon gut«, sagte er. »Ich verstehe dich.«
    »Aber ich bin trotzdem dagegen«, fuhr Herger nach einer weiteren Pause fort. »Wir hätten ihn sterben lassen sollen.«
    »Er wird sterben«, sagte Skar ruhig. »Noch heute nacht.«
    »Und warum quälst du ihn dann?«
    Skar blickte nachdenklich auf die gewaltige Gestalt des Quorrl. Das Wesen war noch immer ohne Bewußtsein, aber seiner Brust entrang sich von Zeit zu Zeit ein tiefes, qualvolles Stöhnen. Skar hatte schon vielen dieser Wesen im Kampf gegenübergestanden und wußte, wie stark und wild sie waren, und er hatte Menschen gesehen, die von Quorrl im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke gerissen worden waren. Trotzdem empfand er keinen Triumph —nicht einmal diese schwer zu beschreibende Erleichterung, wenn man sich einer Gefahr erst dann bewußt wird, nachdem sie vorüber war. Alles, was er empfand, war Mitleid; Mitgefühl mit einem Wesen, das verwundet war und Schmerzen litt.
    Aber wahrscheinlich empfand der Quorrl im Moment weniger Schmerzen als Herger oder er.
    »Ist dir nicht aufgefallen, daß hier nur Quorrl liegen?« fragte er nach einer Weile.
    Herger sah ihn fragend an.
    »Keine Menschen«, sagte Skar. »Ich habe mich umgesehen. Es sind nur Quorrl-Rüstungen. Quorrl-Waffen. Quorrl-Pferde.«
    »Sie werden ihre Toten und Verwundeten mitgenommen haben«, meinte Herger unsicher.
    »Keine zerbrochenen Waffen«, fuhr Skar unbeeindruckt fort. »Keine abgeschlagenen Hände und Arme, keine verlorenen Helme, kein totes Pferd.«
    »Worauf ... willst du hinaus?« fragte Herger unsicher.
    Skar zuckte mit den Achseln. »Vielleicht darauf, daß sie keine Verluste hatten«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Der Gedanke war die ganze Zeit über in ihm gewesen, aber er begriff eigentlich erst jetzt, als er ihn laut aussprach, was er wirklich bedeutete.
    »Das ist unmöglich«, sagte Herger.
    »Das ist es«, bestätigte Skar. »Aber ich weiß keine andere Erklärung.«
    Herger schwieg sekundenlang. »Vielleicht haben sie sie in eine Falle gelockt«, murmelte er. »Wenn sie sie auf große Distanz angegriffen ...« Er brach mitten im Satz ab und starrte mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen an Skar vorbei auf das Schlachtfeld hinaus. Die meisten Quorrl waren durch Pfeilschüsse getötet worden — aber längst nicht alle. Selbst er erkannte eine Schwertwunde, wenn er sie sah.
    »Vielleicht haben sie sich nicht gewehrt«, murmelte er.
    Oder sie haben gegen einen Gegner gekämpft, der nicht zu verwunden war, dachte Skar. Aber das sprach er nicht laut aus. Statt dessen stand er auf, hängte sich seinen Wasserschlauch über die Schulter und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Hügelkette. »Ich werde die erste Wache übernehmen«, sagte er. »Versuch ein wenig zu schlafen. Ich wecke dich kurz nach Mitternacht.« »Skar!«
    Irgend etwas war in Hergers Stimme, das ihn anhalten ließ. Er zögerte, wandte sich noch einmal um und trat wieder ans Feuer heran. »Ja.«
    »Ich ...« Herger schluckte. »Bleib hier«, bat er. »Du kannst auch hier Wache halten. Und ich auch.«
    Wovor hat er Angst? dachte Skar. Vor den Geistern der Toten? Oder vor dem Quorrl? Oder vielleicht einfach davor, allein zu sein? Aber er sprach nichts von alledem aus, sondern ließ sich wortlos wieder am Feuer

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