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Enwor 6 - Die Rückkehr der Götter

Enwor 6 - Die Rückkehr der Götter

Titel: Enwor 6 - Die Rückkehr der Götter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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starrte ihn an. Das Mißtrauen in ihrem Blick legte sich nicht. Es war jetzt nur von anderer Art
    »Vielleicht stimmt irgend etwas mit meinem Gedächtnis nicht«, sagte er. »Weißt du, gestern, als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht einmal an meinen Namen erinnern. Krieg also?« Im Grunde waren Syrrs Worte nicht einmal so überraschend, wie sie sich im ersten Moment angehört hatten: Die Quorrl überschritten die Grenzen ihres Reservates in fast regelmäßigen Abständen, um plündernd und mordend durch die Welt zu ziehen. Und wenn er alles bedachte — die verzweifelte Hetzjagd, zu der ihn Vela gezwungen hatte, ihre Flucht vor Dronte und die fast zweimonatige Rückreise nach Enwor, dazu die Zeit, die er dagelegen und geschlafen hatte... ja, es mußte fast ein Jahr her sein, daß er das letzte Mal Gelegenheit gehabt hatte, sich um die Geschehnisse draußen in der Welt zu kümmern.
    Mehr als genug Zeit, um einen Krieg zu verschlafen...
    Er lächelte bitter.
    »Was ist so komisch?« fragte Talin.
    »Oh, nichts«, seufzte Skar. Er streckte die Hand aus, wie um Talins Haar zu streicheln, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als der Junge erschrocken vor ihm zurückwich, sondern seufzte nur abermals, und sehr tief. »Weißt du, Knirps«, sagte er, »es gibt einen Spruch, nach dem die Götter die lieben, mit denen sie ihre Scherze treiben. Sollte es wahr sein, dann müssen sie unsterblich in mich verliebt sein.«
    Er lachte, als er die Verwirrung auf Talins Zügen sah, und stand mit einer kraftvollen Bewegung auf. »Habt ihr Essen?«
    Syrr schüttelte den Kopf. »Nein. Wir... hatten keine Zeit, Fallen zu stellen, und der Winter war sehr hart. Ich habe gehofft, hier etwas zu finden, aber...« Sie sah ihn fast hoffnungsvoll an. »Habt ihr... hast du etwas?«
    Skar grinste. »Ja«, antwortete er. »Hunger. Ihr seid hier heruntergekommen — kennt ihr auch den Weg hinaus?«
    Syrr nickte. »Warum?«
    »Weil ich keine große Lust habe, in diesem Rattenloch zu verhungern«, antwortete Skar scharf. »Oder darauf zu warten, daß sie kommen und uns holen. Ich bringe euch raus. Zurück in euer Dorf, oder irgendwohin, wo ihr sicher seid.«
    »Das nächste freie Land ist Lora!« protestierte Syrr. »Es sind zehn Tagesmärsche bis dorthin!«
    »Wer sagt, daß wir zu Fuß gehen?« erwiderte Skar. »Wir brauchen Kleider, Waffen und Nahrung. Und Pferde. Könnt ihr reiten?«
    Syrr nickte verwirrt. »Sicher. Aber wo... wo willst du Pferde herbekommen?«
    »Woher schon?« sagte Skar leichthin. »Von den Quorrl natürlich.«

D ie Ebene breitete sich unter ihnen aus wie ein mit zarten Farben gemaltes Bild: flach und scheinbar endlos, denn der Blick verlor sich schon auf halber Strecke zum Horizont hin in grauem Nebel, der wie Dampf aus dem Boden stieg. Der Himmel hing tief, und er war bedeckt mit schweren, bauchigen grauen Wolken, die so aussahen, wie die Luft roch: nach Schnee.
    Skar blickte sehr lange auf das Bild herab, das sich ihm bot, ohne ein Wort zu sagen. Der Anblick der schneebedeckten Ebene vor den Bergen war nicht der erste Dämpfer, den sein neu erwachter Optimismus erhielt, seit er Syrr und Talin getroffen hatte — aber es war der gründlichste. Als er den Tempel der Gesichtslosen Prediger erreicht hatte, hatte der Sommer Einzug gehalten — und jetzt lag auf den Bäumen unter ihnen
Schnee!
Er mußte fünf, vielleicht sogar sechs Monate geschlafen haben! Die Vorstellung war zu erschreckend, als daß er sie jetzt schon verarbeiten konnte;
wirklich
begreifen. Aber ihn schwindelte, als er auch nur daran dachte, wie lange er reg- und hilflos dagelegen haben mußte, allem ausgeliefert, was mit ihm geschah.
    »Dort unten!« Syrrs Worte rissen ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Das Mädchen deutete mit der Hand auf eine Baumgruppe, nicht mehr als zwei oder drei Pfeilschußweiten entfernt. Mit der anderen bedeutete sie ihm gleichzeitig, sich möglichst still zu verhalten. Als sie weitersprach, war ihre Stimme zu einem hastigen hellen Flüstern geworden. Skar hätte ihr sagen können, daß man ein auf diese Art gesprochenes Wort fast ebensoweit hörte wie ein ganz normal gesprochenes; aber es war nicht nötig. Es waren keine Quorrl in der Nähe. Über einem Teil der Landschaft lag schon Dämmerung, und wie oft an früh zu Ende gehenden Wintertagen war alles irgendwie grau und verschleiert, so daß er nicht sehr weit sehen konnte. Trotzdem wußte er, daß die Fischgesichter nicht da waren. Er hätte sie gespürt. Er

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