Enwor 7 - Das schweigende Netz
einzelner Mann ihr nennenswerten Schaden zufügen konnte. Und sie war massiv erbaut, einzig und allein aus Stein, der bekanntlich nicht besonders gut brannte.
Aber ihm waren auch noch andere, kaum weniger verrückte Gedanken durch den Kopf geschossen, die eigentlich allesamt nur eines gemeinsam hatten: Sie waren undurchführbar. Er zweifelte nicht daran, daß er mit Gewalt ausbrechen konnte, wenn es wirklich sein mußte, und auch Del mußte wissen, daß ihn die vier Mann, die er zu seiner und Kiinas Bewachung unter der Treppe zurückgelassen hatte, nicht
wirklich
aufhalten konnten. Aber wenn er sich seinen Weg aus diesem Turm heraus
erkämpfte,
dann würde er damit genau das tun, was seine Feinde von ihm erwarteten. Nein, dachte er: Del — beziehungsweise die Macht, die sich seiner bediente — hatte ihn gründlich außer Gefecht gesetzt.
»Was ist das?« fragte Kiina plötzlich.
Skar schrak aus seinen Gedanken hoch und folgte Kiinas Blick. Sie sah an ihm vorbei zum Fluß hinab, auf das Lager der Quorrl, und auch Skar erkannte sofort, daß sich dort etwas verändert hatte — er wußte nicht was, aber das undurchschaubare Muster aus grün und graugeschuppten Gestalten und behäbiger Bewegung hatte sich irgendwie... verändert.
Besorgter, als er zuzugeben bereit war, trat er neben Kiina an die Brüstung heran und beugte sich vor, so weit er konnte. Der Wind biß ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen.
Er hob die Hand über die Augen, kniff sie zu schmalen Schlitzen zusammen und konzentrierte sich, um mehr Einzelheiten ausmachen zu können. Es gelang ihm nicht. Das Lager war einfach zu weit entfernt, und die Nacht zu dunkel. Gegen die sie belagernde Finsternis wirkten die Lagerfeuer und Fackeln grell und blendeten ihn mehr, als sie ihn sehen ließen. Aber Kiina und sein erster Eindruck hatten recht — etwas geschah dort unten. Er wußte noch immer nicht, was es war, aber eines wußte er genau: Es war
kein
Wandel zum Guten hin. Alles wirkte plötzlich ein winziges bißchen hektischer, unruhiger, nervöser. Das Muster aus vierzigtausend Quorrl-Körpern war in Bewegung geraten wie buntfarbener Sand, der im Sieb eines Goldwäschers zitterte.
»Was tun sie?« fragte Kiina ängstlich.
Skar zuckte mit den Achseln und versuchte fast verzweifelt, mehr Einzelheiten zu erkennen. Nach einer Weile glaubte er ein Muster in der quirlenden Bewegung dort unten auszumachen —eine nur durch die riesige Entfernung langsam scheinende Wellenbewegung, die sich wie die Halbkreise eines am Ufer ins Wasser geworfenen Steines vom jenseitigen Rand des Lagers her durch die gesamte Masse der Quorrl-Armee zogen. Die Quorrl...
flohen vor etwas
dachte Skar verwirrt.
Aber wovor? Und —
Er erkannte es, eine halbe Sekunde bevor Kiina gellend aufschrie und mit dem ausgestreckten Arm nach unten deutete.
Eine schnurgerade Reihe daumennagelgroßer Reitergestalten war aus der Dunkelheit herausgebrochen und verfolgte mit angelegten Lanzen die flüchtenden Quorrl, gefolgt von einer zweiten, dritten und vierten Schlachtreihe gepanzerter Reiter. Und hinter ihnen, getrennt durch wenige Zoll, die auch in Wirklichkeit nicht mehr als zwei-, dreihundert Schritte sein konnten — hinter diesen drei-, oder vierhundert Veden-Reitern
brachen Tausende und Abertausende schwarzgekleideter Gestalten aus der Nacht heraus!
-
»Nein!« stammelte Skar. »Das... das sind ...
das sind unsere eigenen Leute, Kiina! SIE GREIFEN DIE QUORRL AN!!«
Er fuhr herum, packte Kiina mit beiden Händen bei den Schultern und schüttelte sie so heftig, daß sie erschrocken aufschrie. »Es sind Satai, Kiina!« schrie er noch einmal. »Es ist das Heer aus Denwar! Und sie greifen Titch an!«
Kiina versuchte sich aus seinem Griff zu befreien und sagte etwas, das Skar nicht einmal verstand. Er ließ sie los, stürzte wieder zur Brüstung und sah nach Westen. Das Muster aus Lagerfeuern jenseits des Flusses brannte noch immer so ruhig und unverändert wie bisher, aber er begriff plötzlich, warum es so wenige waren. Es konnten nur ein paar Dutzend, allerhöch-stens wenige hundert Männer sein, die
wirklich
dort draußen auf der Ebene zurückgeblieben waren — der weitaus größte Teil des Heeres mußte den Fluß außer Sichtweite überschritten und einen Bogen geschlagen haben, um den Quorrl in den Rücken zu fallen.
Aber warum? Warum nur?
Ungläubig starrte er wieder auf den Lagerplatz der Quorrl hinab. Durch die Nacht wehten jetzt die ersten Schreie und der
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