Enwor 7 - Das schweigende Netz
gesehen hatte. Sie war wieder vollständig. Der kristallene Pfropfen verschloß sie.
»Du weißt nicht, was es ist.«
»Gift«, vermutete Skar. »Und eine Waffe gegen das Netz.«
Titch lächelte fast mitleidig. Dann hob er einen kleinen, scharfkantigen Stein auf und ritzte sich damit den Handrücken. Ein einzelner Blutstropfen lief wie eine rubinrote Träne über seine glitzernden Schuppen. »Er schneidet«, sagte er. »Und in der richtigen Hand tötet er auch. Ist er deshalb eine Waffe?« Er warf den Stein fort und verbarg das Fläschchen wieder unter seinem Gürtel. Seine Bewegungen waren sehr sorgfältig.
»Es ist das Wasser des Lebens, Satai«, erklärte er, sehr ernst. »Wasser aus dem Goldenen Brunnen. Du würdest nie verstehen, wie wertvoll es für unser Volk ist.«
Skar versuchte es auch gar nicht. Er sah den Quorrl nur fragend an, und wie er erwartet hatte, fuhr Titch nach einer kurzen Pause fort, und fast mehr an sich selbst als an ihn gewandt: »Mein Volk würde hundert Mal vierzigtausend Krieger aussenden, um dieses Wasser zurückzubekommen, Skar. Der Goldene Brunnen ist das Wertvollste, was wir besitzen. Unser größtes Heiligtum.«
»Wertvoller als das Leben deiner Männer?«
»Du verstehst nicht«, sagte Titch. »Es
ist
Leben. Ohne dieses Wasser würde unser Volk sterben, wie eine Pflanze, der man die Sonne stiehlt.« Er schwieg eine geraume Weile, dann deutete er auf die tote
Errish.
»Ich weiß nicht, wie es ihr gelungen ist, es zu stehlen. Aber du hattest recht mit deiner Vermutung: Sie kommt nicht aus Elay. Dieser Vogel muß die ganze Strecke vom Goldenen Tempel bis hierher geflogen sein.«
»Um uns das Wasser zu bringen«, vervollständigte Skar. »Titch, begreifst du denn nicht, was sie getan hat? Dieses Wasser tötet das Netz. Es ist eine Waffe gegen dieses fürchterliche Ungeheuer.«
»Es tötet alles Leben«, antwortete Titch geheimnisvoll. »Denn nur der Tod gebiert Leben.«
»Aber sie hätte Elay damit befreien können!« fuhr Skar fort. »Versteh doch! Diese Frau hat... hat ihr eigenes Volk geopfert, um uns zu retten!«
»Vielleicht«, gab Titch zu. »Vielleicht aber auch nicht. Du weißt nicht, was sie wirklich gewollt hat. Niemand weiß es. Niemand kann sie jetzt noch fragen. Und es spielt keine Rolle.
Das Wasser des Lebens muß zurück an den Ort, an den es gehört. Das ist alles, was zählt.«
»Auch, wenn wir dadurch den Krieg verlieren?« fragte Skar. »Auch dann«, bestätigte Titch ungerührt. »Welchen Sinn hat es, die Welt zu opfern, um sie zu retten?«
»Das ist doch Unsinn«, wandte Skar sanft ein. »Du bist ein vernünftiger Mann, Titch. Laß uns vernünftig miteinander reden.«
»Ich
bin
vernünftig, Satai«, sagte der Quorrl. »Ich war es niemals mehr. Ich bin ein Krieger, und ich bin dazu geschaffen zu kämpfen. Ich hätte es dabei belassen sollen. Alles wurde falsch, als ich anfing, die Dinge ändern zu wollen. Ich werde dieses Wasser nehmen und an den Ort zurückbringen, an den es gehört, und dann sterben. Ich mußte es dir stehlen.« »Du hättest mich darum bitten können«, gab Skar ihm zu bedenken. In seiner Stimme war kein Vorwurf. »Ich hätte es dir gegeben.«
»Aber dann hättest du Fragen gestellt«, entgegnete Titch. »Und wenn nicht du, dann dein Freund Del.« Er seufzte. »Ich habe alles falsch gemacht, Satai. Nach Trashs Tod hatte ich die Führung des Heeres allein inne, und ich wollte es richtig machen, aber ich ... ich habe versagt.«
»Weil du es dir selbst erlaubt hast, etwas
zu fühlen?«
fragte Skar. »Ich bin ein Krieger«, erwiderte Titch. Er versuchte vergeblich, Zorn in seine Stimme zu zwingen. Dann, übergangslos: »Ihr werdet diesen Krieg verlieren, Satai. Ihr und wir, wir werden gemeinsam zugrunde gehen.«
Skar schwieg für eine Weile. Was für ein Narr er doch gewesen war. Er hätte es erkennen müssen, schon vor einem Vierteljahr, als er dem
Daij-Djan
das erste Mal wieder gegenübergestanden hatte. Spätestens in dem Moment, in dem die Sternenbestie Titchs Bruder getötet hatte. Plötzlich glaubte er, die Worte des riesigen Quorrl noch einmal zu hören, so deutlich, als stünde er hinter ihm und flüstere sie ihm ins Ohr:
Sie sind wieder da, Satai! Sie sind wieder da!
Was hatte er sich eingebildet? Daß der Dämon ihm allein gehörte? Wer war er, zu glauben, er hätte ein Anrecht auf einen Gott nur für sich allein?
»Erzähl mir vom
Daij-Djan«,
bat er. »Und von den Wesen hinter dem Ende der Welt.«
»Er ist eine
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