Enwor 8 - Der flüsternde Turm
auch Skar und folgte ihm.
Für eine geraume Weile standen sie einfach schweigend nebeneinander und blickten auf die verwirrend fremdartige Welt hinab, die sich zwei oder drei Meilen unter ihnen ausbreitete.
Das Tal der Drachen...
Die Worte erfüllten Skar mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Unter ihnen lag der Schlüssel zur Macht der
Errish,
die Heimat der Bestien, die sie unbesiegbar und fast allmächtig gemacht hatten, aber auch eine Welt, die den meisten Menschen Enwors so fremd und unverständlich war, daß sie davor zurückschreckten, auch nur ihren Namen auszusprechen. Kaum ein Mensch, der nicht das schwarze Gewand der
Errish
trug, hatte dieses Tal jemals betreten. Und von denen, die es gewagt hatten, waren nur die allerwenigsten zurückgekehrt. Selbst die
Ehrwürdigen Frauen
zahlten manchmal mit dem Leben für den Versuch, die Heimat der Drachen zu betreten.
»Vielleicht wäre es besser, wenn du hier auf mich wartest«, sagte er. »Kein Quorrl hat jemals dieses Tal betreten.«
»Und kein Mensch das Land der Toten«, antwortete Titch ebenso leise. »Trotzdem willst du es tun.«
Aber ich bin kein Mensch,
dachte Skar. Laut sagte er: »Das ist etwas anderes. Ich... habe keine Wahl. Ich muß es tun.« »Warum?« Titch lachte leise. Es sollte abfällig klingen, aber Skar spürte die Unsicherheit darin. »Weil du ein Satai bist und dir einbildest, die Welt retten zu müssen?«
»Nein«, antwortete Skar. »Weil ich es war, der sie geweckt hat. Und weil ich der einzige bin, der sie vielleicht aufhalten kann.«
Titch war nicht einmal überrascht. Vielleicht hatte ihm irgend jemand die Geschichte von Vela und ihrem Versuch, die Macht über die Welt an sich zu reißen, erzählt, und die Rolle, die Skar darin gespielt hatte. Vielleicht spürte er auch einfach nur, daß Skar mehr war als ein
Satai.
»Ich habe nicht geschlafen«, sagte Titch plötzlich, und im ersten Moment scheinbar zusammenhanglos. »Ich hatte viel Zeit, nachzudenken, Skar. Ich glaube, du hast recht. Wir können sie nicht besiegen. Du kannst es nicht, und ich kann es nicht. Nicht allein. Aber vielleicht gelingt es uns gemeinsam. Unsere Völker sind Feinde, solange unsere Erinnerung zurückreicht, aber wenn wir zusammen überleben konnten, dann können es all die anderen vielleicht auch.«
Unter allen anderen denkbaren Umständen hätten diese Worte vielleicht lächerlich, zumindest aber pathetisch in Skars Ohren geklungen. Jetzt nicht. Er verstand, was der Quorrl meinte, und er wußte, daß er recht hatte. Menschen und Quorrl waren längst zu einem Volk geworden, auch wenn sie es selbst nicht einmal ahnten. Enwor gehörte ihnen beiden. Es spielte überhaupt keine Rolle mehr, wer von ihnen zuerst hiergewesen war.
»Vertraust du mir?« fragte Titch plötzlich.
»Natürlich«, antwortete Skar. Vielleicht war der Quorrl das einzige denkende Wesen auf dieser ganzen Welt, dem er noch vertraute.
»Aber das solltest du nicht«, fuhr Titch fort; ganz leise, den Blick starr weiter nach unten gerichtet, auf das verwirrende Marmormuster aus Gelb und Braun und schmutzigem Grün, ohne es wirklich zu sehen.
»Und... warum?«
»Weil ich dich belegen habe«, murmelte Titch. »Dich und... dieses Kind, an dem dir so viel zu liegen scheint.«
»Belogen?«
»Geh nicht dorthin«, sagte Titch anstelle einer direkten Antwort. Er deutete ins Tal hinab. Skar wollte etwas sagen, aber Titch machte eine rasche Handbewegung und fuhr fort: »Es ist nicht, was du glaubst. Aber du kannst das Mädchen nicht retten. Niemand kann das jetzt noch. Sie... stirbt. So oder so. Ihr werdet beide sterben«, fügte er leiser hinzu.
Skar sah ihn fragend an. Der Quorrl drehte sich zu ihm herum, zog ganz langsam sein Schwert und hielt Skar die Klinge hin. »Sieh dich an.«
Verwirrt nahm Skar dem Quorrl die Waffe aus der Hand und drehte die blitzende Klinge so lange, bis sich sein eigenes Gesicht in ihrer Oberfläche spiegelte. Das Bild war verzerrt; die Kratzer, die die Waffe davongetragen hatte, schienen sein Antlitz in mehrere ungleiche Teile zu teilen, die nicht ganz perfekt zusammenpaßten. Aber er sah trotzdem, was der Quorrl meinte, und er erschrak. Das Gesicht, das ihm entgegengrinste, war das eines Toten. Seine Haut war bleich, fast weiß, und mit häßlichen grauen Flecken übersät, und unter seinen Augen und auf seinen Wangen lagen schwarze Schatten. Sein Haar war dünn geworden, und als er den Mund öffnete, sah er, daß sein Zahnfleisch zurückgewichen war. Er
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