EONA - Das letzte Drachenauge
Befehl an den Rattendrachen glitt durch mich hindurch wie eine Hand, die über meine Haut strich. Die Macht griff aus, suchte, fand ihr Ziel. Ich spürte, wie Dillons Hass antwortete; seine scharfen Stacheln krallten sich in Ido wie der Enterhaken eines Soldaten, banden den Jungen an seinen Meister und zogen ihn unaufhaltsam zu uns. Dillon und das schwarze Buch waren unterwegs.
Dann prallte die Macht zu mir zurück, und ihr rasiermesserscharfer Rand ließ mich kurz erzittern vor Lust.
Unvermittelt ließ ich Idos Willen los. Er sackte zusammen und sein keuchender Atem drang laut durch die plötzliche, unheimliche Stille. Alle Vögel und Insekten waren verstummt, als würden sie ein unwiderrufliches Ereignis unterstreichen.
Ido hob langsam den Kopf, doch ich drehte mich auf dem Absatz um, unfähig, ihm in die Augen zu sehen. Ich kam bis zu dem Jasminstrauch, dessen weiße Blüten schwer in der heißen Luft hingen. Der süßliche Duft blieb mir in der Kehle stecken. Noch immer spürte ich Ido in meinem Hua.
»Das macht süchtig, nicht wahr, Eona?«
Ich wusste, ich sollte nicht reagieren auf seine leise Stimme, sondern einfach weitergehen. Und doch blieb ich stehen und sah mich um. Er kniete da und hielt sich den Handrücken an die blutende Nase.
»Was macht süchtig?«, fragte ich.
Sein Lächeln war wie eine Liebkosung. »Zu bekommen, was man will.«
Auf dem Weg durch das Gebüsch zurück zum Lager war ich gefangen in einer schrecklichen Gedankenspirale: die Perle, Kygo, Kinra, Ido und ich – alles kreiste unentwegt um die düstere Weissagung in dem roten Buch. Achtlos schob ich hinderliche Äste weg und ich spürte den stechenden Schmerz, als sie zurückschnellten und mir ins Gesicht peitschten. Sagte Ido die Wahrheit? Ein Vogel flog aus einem niedrigen Gebüsch auf und stieß einen heiseren Warnruf aus. Nein! Ich musste glauben, dass er log. Die andere Möglichkeit war zu schrecklich. Ich knirschte mit den Zähnen. Seine Gegenwart summte noch immer in meinem Blut.
»Eona, ist alles in Ordnung mit Euch?«
Kygo blieb mit gezücktem Schwert vor mir stehen; durch meine tränennassen Augen sah ich ihn nur ganz verschwommen. Ich wich zurück und verlor das Gleichgewicht. Er packte mich mit der freien Hand am Arm, sodass ich nicht stürzte, und grub mir dabei die Finger ins Fleisch. Hinter ihm brachen Caido und Vida mit gezückter Klinge durch das Unterholz.
»Was ist los?«, fragte Kygo. »Hat Ido etwas getan? Ryko hat gespürt, dass Ihr Zwang auf ihn ausgeübt habt.«
Meine Augen hefteten sich auf die Perle. Das Hua Aller Menschen .
»Es war nichts.« Ich riss meinen Arm los. »Nur eine Übung.«
Kygo ließ das Schwert sinken und wandte sich an Vida und Caido, während das Sonnenlicht die Perle in allen Farben des Regenbogens schimmern ließ. »Falscher Alarm.«
Caido blickte prüfend über die Büsche ringsum. »Wir geleiten Euch und Lady Eona zurück ins Lager, Majestät.«
»Nein.« Kygo schickte die beiden mit einer Handbewegung weg. »Es ist ja nicht weit.«
Mit einer Verbeugung machten sie kehrt und ließen den Geruch nach aufgewühlter Erde und abgebrochenen Zweigen zurück.
Kygo steckte sein Schwert in die Scheide. »Ist wirklich alles in Ordnung mit Euch?«
Ich sah auf meine staubigen Füße, weg von dem machtvollen Glanz an seinem Hals. Ob Kinra die Perle hatte rauben wollen, um die Drachen zu retten? Das würde bedeuten, dass die Energietiere schon zur Zeit meiner Vorfahrin ihre Stärke allmählich verloren. Für mich war der Spiegeldrache so neu, dass ich nicht einmal wusste, ob er an Macht eingebüßt hatte. Doch bei dem Gedanke, er könnte immer schwächer werden, bekam ich stechende Kopfschmerzen.
Ich presste die Hand auf die Stirn. »Es tut mir leid, dass ich Euch beunruhigt habe, Majestät.«
Die Perle war zu nah bei mir. Kygo war zu nah. Vielleicht hatte Ido ja doch recht?
»Ich hatte ohnehin mit Euch reden wollen«, sagte er. »Allein.«
Ich hob den Kopf und zwang mich, nicht auf die bleich schimmernde Perle zu schauen, sondern auf Kygos sinnlich geschwungenen Mund. Die Erinnerung an unseren Kuss klang in mir nach. Ich wich zurück. »Majestät, verzeiht, aber ich bin sehr müde.«
»Es dauert nicht lange.« Er räusperte sich, und als er vernehmlich schluckte, musste ich wieder auf den Schmuck an seinem Hals schauen. »Ich habe inzwischen eingesehen, dass ich Euch mit meinen ehrlichen Worten über Eure Macht beleidigt habe«, sagte er. »Ich bin es nicht gewohnt –« Er hielt
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