EONA - Das letzte Drachenauge
Ausweg.«
»Aber wie habt Ihr das gemacht? Wie habt Ihr die Kontrolle über das Gan Hua behalten?«
Er zögerte. »Schmerz ist Energie. Ich habe sie auf meinen Drachen übertragen und Gan Hua verwendet, um mich in dem Tier zu halten, fern von dem, was meinem irdischen Körper widerfuhr.«
Trotz der Hitze des neuen Tages lief mir ein Frösteln über die feuchte Haut. »Hat Euer Drache deswegen so gelitten?«
»Wie gesagt, es war mein letzter Ausweg.« Seine Stimme wurde hart. »Und wie Ihr gesehen habt« – er berührte seine Schädeldecke –, »wurde nicht nur der Drache versehrt. Ich bin zu lange in ihm geblieben und habe ihm zu viel Energie geraubt, ohne ihm etwas zurückzugeben.«
»Ich würde meinem Drachen nie solche Schmerzen zufügen«, versetzte ich.
»Und doch fügt Ihr mir und Eurem Freund Ryko Schmerzen zu«, gab er zurück. »Es ist leicht, ›nie‹ zu sagen, Eona. Aber Ihr habt bereits eine Grenze überschritten, doch in Eurem Drang, zu bekommen, was Ihr wollt, habt Ihr es gar nicht bemerkt.«
Ich funkelte ihn zornig an. »Ihr habt keine Ahnung, was ich will.«
»Dann sagt es mir.«
»Ich will das Gan Hua beherrschen, und zwar möglichst schnell.«
»Trotz Eurer Angst wollt Ihr noch mehr Macht?« Er lächelte. »Ihr seid eine wahre Königin.«
»Nein, Ihr versteht mich falsch«, entgegnete ich und rang die Hände. »Ich muss das Gan Hua beherrschen, weil die Drachen nicht unsterblich sind. Zumindest ist ihre Macht nicht unendlich.«
Er hielt inne. »Wie kommt Ihr darauf?«
»Es gibt eine Weissagung im roten Buch. Dort heißt es, wenn der Spiegeldrachen sich erhebt, sei das ein Zeichen für das Ende der Drachen.«
»Was?« Er packte mich am Arm. »Zeigt mir diese Stelle. Sofort!«
»Ich weiß sie auswendig«, sagte ich und tippte mir an den Kopf. Die Verse waren mir in Feuerschrift eingebrannt. Langsam rezitierte ich:
»Die Sie von den Drachen kehrt zurück und steigt auf,
Wenn der Kreis der Zwölf beschließt seinen Lauf.
Die Sie von den Drachenaugen macht neu und bewacht,
We nn das Hua Aller Menschen bezwingt die dunkle Macht. «
»Wie war die letzte Zeile noch mal?«, fragte Ido.
Ich wiederholte sie.
»Lady Dela und ich denken, dass mit der ›dunklen Macht‹ Gan Hua gemeint ist«, fügte ich hinzu.
»Ja, so haben unsere Vorfahren sie genannt.« Sein Blick glitt über die Lichtung ringsum und er war sehr angespannt.
»Aber wir wissen nicht, was das ›Hua Aller Menschen‹ bedeutet.«
»Ich weiß, was es bedeutet«, entgegnete er.
»Und was?«
Er beugte sich vor, bis seine Lippen an meinem Ohr waren. »Das ›Hua Aller Menschen‹ ist der alte Name für die Kaiserliche Perle.«
Ich schwankte, denn diese Worte zeigten die erschreckende Unausweichlichkeit: Die Perle – das Symbol der Souveränität des Kaisers – war der Weg, die Drachen zu retten.
Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Das kann nicht sein.«
Ido stützte mich. »Ich habe die Formulierung in alten Schriftrollen gelesen.«
Hatte Kinra deswegen versucht, die Perle von Kaiser Dao zu stehlen? Um die Drachen zu retten? Es dauerte einen Moment, bis mir das ganze Ausmaß des Schreckens bewusst wurde. Wenn das der Grund für Kinras sogenannten Verrat gewesen war – der Grund, warum sie alles aufs Spiel gesetzt und einen Kaiser angegriffen hatte –, dann musste die Perle vom Hals des Kaisers verschwinden, um die Drachen zu retten. Sie musste von Kygos Kehle verschwinden. Und das würde ihn töten.
Ich sah zu Ido hoch. »Ihr lügt!«
»Es ist die Wahrheit, Eona.« Sein grimmiges Gesicht war eine Handbreit vor dem meinen. »In den alten Aufzeichnungen, die erhalten sind, konnte ein Drachenauge allein sich um eine Provinz kümmern. Heute braucht es alle Drachenaugen, um die gleiche Energie-Ebene zu erreichen. Die Drachenmacht schwindet. Und Eurer Weissagung zufolge ist die Kaiserliche Perle das Mittel, sie zu retten.«
Nein. Das konnte nicht stimmen.
Und doch hatte ich Kinras Drang nach der Perle gespürt. Zweimal hätte ich unter ihrem bestimmenden Einfluss die Perle fast von Kygos Hals gerissen. Vor fünfhundert Jahren hatten meine Vorfahrin und Lord Somo die Perle von Kaiser Dao stehlen wollen. War ich mit Ido und Kygo irgendwie in dasselbe Gespann gesperrt?
Es gibt keine Zufälle , hatte Dela gesagt.
Ich wand den Arm aus Idos Griff und flüsterte: »Ich glaube Euch nicht. Das ist bloß wieder eines Eurer kranken Spielchen.«
Ido lachte barsch. »Das ist kein Spielchen, Eona. Ich lüge nicht. ›Das Hua
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