EONA - Das letzte Drachenauge
inne und rieb sich das Kinn. »Ich meine, abgesehen von meinem Vater hat es noch nie jemanden gegeben, dessen Meinung ich ernsthaft berücksichtigen musste. Und ich musste mich nie« – er fuhr mit dem Finger über die Fassung der Perle – »um eine Frau bemühen.«
Entschuldigte der Kaiser sich etwa bei mir?
Er holte tief Atem. »Ich kann das Gesagte nicht zurücknehmen – wir wissen beide, dass es die Wahrheit ist –, doch ich bedaure, Euch damit verletzt zu haben.« Er nahm meine Hand. »Und ich habe damals nicht bedacht, wie wichtig Ihr als Naiso für mich seid. Eona, Ihr seid als Mond das Gegengewicht zu mir als Sonne.«
Für einen Moment brachte ich kein Wort heraus. Ich sollte sein Gegengewicht sein? Das Vertrauen, das er mir entgegenbrachte, machte mich beklommen. Ich wollte sein Gegengewicht sein, doch viel wahrscheinlicher war ich sein Tod.
»Es ist mir eine Ehre, Majestät«, stammelte ich.
»Kygo«, verbesserte er mich sanft. »Es tut mir leid, wenn ich Euch verletzt habe, Eona.«
Seine Aufrichtigkeit versetzte mir einen Stich wie mit einem Messer. Ich fasste seine Rechte fester und spürte, wie sich etwas Metallenes in meine Handfläche grub; er hatte den Blutring wieder am Finger. Gut. Er brauchte den Schutz. »Ihr wisst, dass ich Euch nie verletzen würde, Kygo.«
»Ja.« Er neigte den Kopf zur Seite und unterdrückte ein Lächeln. »Ihr habt mir zwar schon einen Schlag gegen die Kehle verpasst und mit dem Schwert auf mich einstechen wollen, aber natürlich weiß ich, dass Ihr mich nie verletzen würdet.«
Ich schloss die Augen, doch ich konnte die Tränen nicht aufhalten. Er wusste ja nicht, wie viel Wahrheit in seinem Scherz lag: Beim Gasthaus hatte ich Kinras mörderische Gier nach der Perle kaum bezähmen können – und dabei hatte mich da der Wahnsinn des schwarzen Buchs noch gar nicht berührt!
»Eona, ich mache doch nur einen Scherz«, sagte er. Die sanfte Berührung seiner Finger brachte meine Tränen zum Versiegen.
Ich presste meine tränennasse Wange in seine Hand, nicht gewillt, die Augen zu öffnen und die Perle zu sehen. Nicht gewillt, die Wahrheit zu sehen. Doch ich wusste, dass Ido recht hatte. Die Perle war das Mittel, um die Drachen zu retten. Um unsere Macht zu retten. Schon als er das gesagt hatte – und auch als ich es abstritt –, wusste ich, dass es stimmte. Als würde ein Teil eines Holzpuzzles seinen Platz finden und ein Bild des Schmerzes ergeben.
Ich atmete bebend ein. Wenigstens war Kinra keine machthungrige Verräterin gewesen. Sie hatte die Drachen retten wollen. Mein Stammbaum war frei vom Makel der Heimtücke. Doch das änderte nichts daran, dass Kinra die Perle weiterhin durch mich – ihre Nachfahrin als Drachenauge – in ihren Besitz zu bringen suchte und dass Kygos Leben in Gefahr war. Ich würde keine Marionette meiner Vorfahrin sein oder der Götter oder irgendeines anderen Wesens, das die Fäden dieses Schattenspiels zog. Jedenfalls nicht kampflos. Es musste einen anderen Weg geben, die Drachen zu retten. Einen anderen Weg, das Gan Hua zu bemeistern. Und mir fiel nur ein einziger Ort ein, wo dieser Weg zu finden war: das schwarze Buch.
Ich öffnete die Augen. »Ich weiß«, erwiderte ich, doch mein Blick war schon auf die Perle geheftet.
Der Sog ihrer Macht schlummerte stets ganz hinten in meinem Geist. Jetzt wusste ich auch, warum. Wegen Kinra. Ich musste Kygo und die Perle beschützen, bis Dillon das schwarze Buch brachte. Bis ich einen Weg gefunden hatte, die Drachen ohne das Hua Aller Menschen zu retten.
Ich musste Kygo vor Kinra schützen. Und vor mir.
Ich drückte die Lippen in seine Rechte, in das weiche Energietor seiner Handfläche, und prägte mir diese Berührung und Kygos Geruch ein. Dann zwang ich mich zu einem Lächeln und entfernte mich von der Sonne, zu der ich als Mond das Gegengewicht war.
Ryko war der Erste, den ich sah, als ich hinter Kygo zurück in unser kreisrundes Lager kam. Abgesehen von den ringsum postierten Wächtern war nur der Insulaner auf den Beinen. Alle anderen legten sich schlafen oder waren über ihr Essen und Trinken gebeugt und aßen mit müder Gier. Ryko dagegen trat von einem Fuß auf den anderen, ganz konzentriert auf Ido am anderen Ende der buschigen Lichtung. Das Drachenauge war von unserer Übungsstunde zurückgebracht worden, und ein Wächter – Jun der Bogenschütze – fesselte ihm wieder die Hände. Ido schaute zu mir, als ein Begrüßungsraunen unsere Ankunft ankündigte, doch ich wandte
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