EONA - Das letzte Drachenauge
»Überhaupt erinnere ich mich nur an wenig.«
»Das war wohl zu erwarten. Schließlich wart Ihr erst vier, als er in die Herrlichkeit seiner Vorfahren einging. Im Jahr darauf habe ich wieder geheiratet.« Sie musterte mich. »Und an Euren Stiefvater erinnert Ihr Euch auch nicht? Oder an das, was dann geschehen ist?«
»Nein.«
»Wahrscheinlich ist das ganz gut so«, sagte sie grimmig. »Er meinte, er würde für uns alle sorgen – für Euch, für mich, für Euren Bruder und sogar für Charra –, doch als die Lage schwierig wurde, erklärte er, er wolle nicht die nutzlose Tochter eines anderen durchfüttern. Es sei schon genug, einen Stiefsohn großzuziehen. Er hat Euch als Leibeigene verkauft.«
»Warum habt Ihr das zugelassen?« Die Frage kam zu schroff.
»Zugelassen?« Sie runzelte verblüfft die Stirn. »Er war mein Ehemann. Wie hätte ich ihm widersprechen können?«
»Habt Ihr es wenigstens versucht?«
Ich hätte um meine Tochter gekämpft. Mit allen Mitteln.
Sie wandte den Kopf von der versteckten Anklage ab. »Ich habe den Händler angefleht, dass er Euch in häusliche Dienste verkauft.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Hat er das getan?«
»Ja.« Das stimmte nur zum Teil, denn immerhin hatte ich beim Besitzer der Saline als Küchensklavin begonnen, doch was würde es bringen, ihr die ganze Geschichte zu erzählen? Von der Frau des Besitzers, die uns schließlich alle zur Arbeit in den Salzabbau schickte, als ihr Mann auf uns aufmerksam wurde? Vom erdrückenden Elend der langen Tage? Von den Nächten, in denen ich immer wieder den Atem anhielt und auf die Schritte des Auspeitschers lauschte?
»Was ist aus meinem Bruder geworden?«, fragte ich.
Von einem Augenblick zum anderen alterte ihr Gesicht, und der freundliche Zug um ihren Mund wich tiefer Verbitterung. »Er wurde vor einem Jahr Soldat und ist bei den Trang-Dein-Angriffen gefallen.«
Ich empfand ein kaltes, unerwartetes Gefühl des Verlusts, obwohl diese Frau und ihr Sohn doch Fremde für mich waren. Dennoch verspürte ich Schmerz über die vertane Chance auf eine Familie. Vielleicht war es auch der tiefe Kummer im Gesicht meiner Mutter.
Sie sah auf, rang sich ein Lächeln ab und berührte mich zögernd am Arm. »Ich dachte, ich hätte niemanden mehr. Bis Meister Tozays Männer kamen.«
»Ihr wisst, weshalb Ihr hier seid, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Meister Tozay sagte, ich könnte gegen Euch benutzt werden. Allerdings wüsste ich nicht, wie. Schließlich bin ich ein Niemand.«
»Ihr seid die Mutter des Spiegeldrachenauges«, gab ich zurück und beobachtete sie genau. »Und meine Stellung mag Euch einschüchtern, aber im Gegensatz zu allen anderen seid Ihr nicht schockiert über ein weibliches Drachenauge, nicht wahr?« Ich lächelte, um meinen Worten den scharfen Ton zu nehmen. »Könnt auch Ihr die Drachen sehen, Mutter?«
Sie sah mir unverwandt in die Augen. »Tochter, bis vor ein paar Wochen wurden Frauen, die behaupteten, sie könnten Drachen sehen, mit anderen Wahnsinnigen zusammengekettet oder umgebracht.«
Ich packte sie bei der Schulter. »Wusstet Ihr, dass ich sie sehen kann?«
»Alle Frauen in unserer Familie können sie sehen. Das ist unser Geheimnis.«
»Was könnt Ihr mir über Kinra erzählen?« Sie trat einen Schritt zurück und entzog sich meinem Griff, doch ich folgte ihr. »Bitte sagt mir, was Ihr wisst. Es ist wichtiger, als Ihr denkt.«
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe Euch die Tafel gegeben. Und ich habe Euch die Verse gelehrt.«
»Welche Verse?«
Sie beugte sich vor. »Die Verse, die von der Mutter an die Tochter weitergegeben werden:
›Die Ratte dreht sich, der Drache lernt, das Reich brennt.
Die Ratte nimmt, der Drache bricht, das Reich erwacht.‹«
Ich erstarrte. Ja, ich kannte diese Verse, oder zumindest den ersten Teil: Ich erinnerte mich, wie ich meinem Meister vor dem Kampf in der Arena im Studierzimmer gegenübergesessen und diese einfachen Worte im Kopf gehabt hatte – in dem Glauben, ich hätte sie in seinen historischen Schriftrollen gelesen.
»Wir haben diesen Vers immer zusammen aufgesagt, wenn wir am Strand spazieren gingen und niemand uns hören konnte«, fügte meine Mutter hinzu.
Kinra hatte ihre Botschaft auf zwei Wegen durch die Zeit gesandt: durch zwei von Generation zu Generation weitergegebene Verse und durch eine Weissagung in verschlüsselter Schrift im Tagebuch eines Drachenauges. Hätte sie die Bedeutung nur nicht so gut verborgen!
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