EONA - Das letzte Drachenauge
Doch ich wusste, warum sie das getan hatte: um die Blutlinie der Spiegeldrachenaugen zu schützen, die wegen ihres Griffs nach der Kaiserlichen Perle verbannt worden waren.
»Was bedeuten diese Verse?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Charra hat mir erzählt, sie stammten von eben der Kinra, deren Tafel von der Mutter an die Tochter weitergegeben werden muss. Es war unsere Pflicht, drei Dinge weiterzugeben.« Sie zählte sie an den Fingern ab. »Die Tafel, die Verse und das Rätsel – bei dem es sich aber eigentlich nicht um ein Rätsel handelt und das ihrem Namen keine Ehre einträgt.«
Ich musterte sie. Ich erinnerte mich nicht an ein Rätsel. War dies das fehlende Teil des Puzzles?
Ich fasste sie am Arm. »Welches Rätsel?«
Erschrocken blickte sie auf meinen festen Griff. »Ihre Tochter hatte zwei Väter, aber nur eine Blutlinie. Zwei in eins ist doppelt.«
»Zwei in eins ist doppelt?«, wiederholte ich.
Bei ihren Worten klingelte es nicht bei mir. Das Teil fügte sich nicht in das Puzzle. Doch ich konnte zumindest die beiden Väter erraten: Kaiser Dao und Lord Somo. Nur eine Blutlinie. Zwei Liebende, doch nur einer war der Vater. Es verschlug mir den Atem, als ich plötzlich eine Eingebung bekam, die große Hoffnungen und Möglichkeiten barg.
In Kinras Stammbaum könnte königliches Blut sein: Daos Blut.
Also war vielleicht auch ich von königlichem Geblüt!
Kygo – wir könnten zusammen sein. Wirklich zusammen. Ich hätte königliches Blut und Drachenaugenblut. Und das würde alle, in deren Adern königliches Blut floss, daran hindern, mich mithilfe des schwarzen Buchs zu unterjochen. Ich wäre unverwundbar und ich hätte alles.
»Welcher von beiden war der Vater?« Ich packte Lillia noch fester am Arm. »Wisst Ihr es?«
Sie löste sich aus meinem Griff und trat mit weit aufgerissenen Augen an die Trennwand zurück. Mir war klar, dass ich ihr Angst machte, doch sie musste mir antworten.
»Sagt es mir!«
»›Der, den sie geliebt hat.‹ Das ist die Lösung des Rätsels. Mehr weiß ich nicht!«
Aber ich wusste mehr.
»Nein!« Ich presste die Hände an die Schläfen, damit die Wahrheit meine Hoffnung nicht zunichtemachte. »Nein!« Doch ich wusste, dass Kinra Lord Somo geliebt hatte. Nicht Kaiser Dao. Dela hatte mir erzählt, der namenlose Mann im Tagebuch sei Somo gewesen, und auch Ido hatte das in seinen Aufzeichnungen gelesen. Kinra hatte das Drachenauge geliebt, nicht den Kaiser. In meinen Adern floss kein königliches Blut, in mir floss doppeltes Drachenaugenblut. Das hatte mir wahrscheinlich zu der ausgeprägten Drachensicht verholfen, doch es verhalf mir nicht zu dem, was ich eigentlich brauchte: einen Weg, um Kygo und die Drachen zu retten.
Ich krümmte mich und rang schluchzend nach Atem, als Verzweiflung mich wieder übermannte. Einen wunderbaren Moment lang nur hatte ich einen Ausweg gesehen.
Meine Mutter kam behutsam näher und fasste mich zögernd an der Schulter. »Warum weint Ihr, Tochter? Was bedeutet das Rätsel?«
»Sie hat Somo geliebt.« Ich atmete bebend ein. »Den Falschen.«
Sie tätschelte mir den Rücken. »Da war sie bestimmt nicht die Erste. Und nicht die Letzte.« Dann sah sie mir prüfend ins Gesicht. »Ihr seid sehr blass. Kommt, setzt Euch. Wann habt Ihr zuletzt etwas gegessen? Oder geschlafen?«
Ich ließ mich zu einem Stuhl führen und mir die abgekühlte Teeschale in die Hände drücken.
»Erzählt mir, was das alles bedeutet«, bat sie.
In der klaren goldenen Flüssigkeit sah ich, wie mein Spiegelbild zu einer höflichen Maske wurde.
Ich blickte auf und lächelte mein Gegenüber an, dessen Gesicht mir so glich. Unleugbar waren wir Mutter und Tochter – doch vorläufig waren wir auch Fremde füreinander. »Ihr habt recht; ich muss schlafen. Vielleicht können wir später darüber reden.«
19
I ch hatte meine Mutter nicht belogen – ich brauchte wirklich Schlaf. Meister Tozay teilte mir die Kajüte des Obermaats zu, die ein Stück weiter den Gang hinunter auf dem Mitteldeck lag. Sie war eng, aber es war eine der wenigen Einzelkabinen auf der Dschunke. Die schmale Koje befand sich in einer von zwei großen Schränken am Kopfende und am Fußende und von einigen niedrigen Ablagefächern gebildeten Nische. Ich streckte mich auf dem Bett aus und versuchte, das Beengende und den dumpfen Geruch zu ignorieren. Ohne die brennende Öllampe hätte ich mich gefühlt wie in einem Grab.
Neben meinem Unbehagen und meiner Müdigkeit nagte noch etwas an mir
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