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EONA - Das letzte Drachenauge

EONA - Das letzte Drachenauge

Titel: EONA - Das letzte Drachenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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war, der Krüppel zu sein? Keine Gefühle haben zu dürfen und nicht als Mensch zu gelten? Meinem Freund Eon wäre das nicht passiert.«
    »Ich habe es nicht vergessen«, gab ich zurück und versuchte, meinen Groll zu bezwingen. »Aber ich bin nicht mehr Eon. Alles hat sich verändert. Ich bin Lady Eona. Ich bin das Spiegeldrachenauge. Ich bin der Naiso des Kaisers.«
    »Heißt das, Ihr müsst nicht mehr an andere denken?«, wollte Ryko wissen. »Lebt Ihr jetzt nach Euren eigenen Regeln?«
    Ich griff ihn an. »Das ist unfair.« Mein Groll richtete sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen Dela und Chart. »Ich denke immer an andere. Keiner von euch versteht, wie das ist.«
    »Ihr hättet mich trotzdem fragen sollen«, sagte Chart hartnäckig. »Eon hätte das getan.«
    Dela berührte mich am Arm. »Ich weiß, dass Euch nicht ganz wohl ist bei dem, was im Versammlungszelt geschah. Ihr habt dort gegen Euer Gespür von richtig und falsch gehandelt. Und tief drinnen wisst Ihr das auch. Lasst nicht zu, dass Eure große Macht Euren Verstand umnebelt, Eona.«
    Ich zog meinen Arm weg. »Was maßt Ihr Euch an, mir etwas über meine Macht und meinen Verstand zu sagen? Ich bin das Spiegeldrachenauge und tue, was ich für angebracht halte.«
    Ryko starrte mich an. »Ihr müsstet Euch einmal selber reden hören. So etwas würde Ido sagen. Er hat sich in Euren Verstand geschlichen, genauso wie in Euren Körper.«
    »Ryko!«, stieß Dela hervor.
    »Das ist nicht wahr!« Meine hitzige Wut griff nach ihm aus, suchte sein Hua und wollte ihm seine Worte in die Kehle zurückstopfen. Ich spürte, wie mein Herzschlag sich über seine Lebenskraft stülpte, spürte, wie Ryko sich krümmte und ich mir noch einen zweiten, rascheren, ängstlichen Rhythmus unterwarf: Chart. Der Junge griff in die Luft und seine Knie knickten ein. Dela stürzte zu ihm und konnte seinen schmächtigen Leib gerade noch auffangen und an sich drücken, bevor er zu Boden fiel.
    Was tat ich da? Abrupt unterbrach ich die Verbindung.
    Ryko hob keuchend den Kopf. »Ist das inzwischen Eure Antwort auf alles?«
    Ich machte auf dem Absatz kehrt, warf mich in meiner ganzen Qual gegen die hölzerne Tür und spürte, wie Lon beiseitetrat. Beim Anblick der wartenden Menge schlug mein Elend erneut um in Zorn.
    »Geht zurück zu euren Zelten!«, bellte ich.
    Sie gafften mich an.
    »Sofort!«, schrie ich. »Verschwindet hier!«
    Die Leute verneigten sich tief, wichen zurück und eilten in kleinen Gruppen über die Wege zwischen den Zelten davon.
    Rilla stand auf. »Was ist passiert?«
    »Ich bin das Spiegeldrachenauge«, erwiderte ich bitter. »Das ist passiert.«
    Dann sah ich zurück zur Tür. Lon hatte sie wieder geschlossen. »Sagt Chart, es tut mir leid.«
    »Was? Dass Ihr ihn geheilt habt?«, fragte Rilla.
    »Nein. Sagt ihm, es tut mir leid, dass ich nicht Eon bin.«
    Ich ließ sie mit ihrer Verwirrung allein und die Eskorte kam eilends herbei, um mich zu begleiten. Das Spiegeldrachenauge entschuldigte sich nicht für seine Macht.
    Das Abendessen zog sich hin, da die Stammesführer dem Kaiser unbedingt die einheimischen Spezialitäten und Belustigungen zeigen wollten. Es gab eine Menge Ziege und einen sauren Reiswein namens Geistertöter, es wurde zu Trommeln getanzt, und das alles wurde begleitet von einem prahlerischen Verhalten, sodass das Gelächter in schrilles Kreischen und das Trinken in einen erbitterten Wettstreit ausartete. Ich saß links neben Kygo auf einem Podest unter Sichelmond und Sternenhimmel, und um den Kreis der Speisenden herum waren Fackeln in den Boden gesteckt. Gelegenheit zu privaten Gesprächen gab es kaum, da die Stammesführer immer aufs Neue unsere Aufmerksamkeit einforderten für laute, unbarmherzig abgespulte Darbietungen. In einem seltenen Moment der Stille beugte sich Kygo zu mir und schob unter dem niedrigen Tisch seine Hand in die meine. Der sanfte Druck seiner Finger linderte mein Elend.
    »Ihr seid blass.« Sein Atem roch nach Wein. »Stimmt etwas nicht?«
    Ich schluckte und drängte den öligen Brechreiz zurück, der, wie ich wusste, das schwarze Buch ankündigte. Unwillkürlich blickte ich auf Lord Ido, der unter Bewachung auf der anderen Seite des Kreises saß. Kygo hatte darauf bestanden, dass er am Essen teilnahm, doch das Drachenauge hatte sich geweigert, etwas zu sich zu nehmen. Er saß regungslos da, als würde er bei der kleinsten Bewegung zerbrechen, und mit der grau schimmernden Haut wirkte sein Gesicht um Jahre gealtert.

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