EONA - Das letzte Drachenauge
Faustschläge ließ die Tür erzittern. »Lady Eona, der Kaiser befiehlt Eure Anwesenheit. Sofort!« Es war Yusos Stimme.
»Fertig«, sagte Vida und trat von mir zurück.
»Die Tafeln meiner Vorfahren?«, fragte ich. »Wo sind sie? Ich muss sie dabeihaben.« Kinra hatte mir schon einmal geholfen, Dillon fernzuhalten. Vielleicht würde sie es ein zweites Mal tun.
Vida eilte zu einem kleinen Korb am Boden und durchwühlte ihn. »Hier.« Sie hielt mir den Lederbeutel hin. »Mögen Eure Vorfahren Euch beschützen, Mylady.«
»Und Eure auch, Vida.«
Als ich den Beutel nahm, schloss ihre Hand sich um die meine – eine kurze Geste der Hoffnung und Verbundenheit.
Ich steckte den Beutel in meine Schärpe und drückte die Tür auf. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte mich und ich schwankte. Hauptmann Yuso verbeugte sich und sein scharfer Blick bemerkte, dass ich zurückschreckte. Hinter ihm duckten Männer sich um tänzelnde Pferde, zogen Gurte stramm und überprüften das Zaumzeug. Ich sah, wie Ryko Befehle erteilte und Kygo sich mit Tozay beriet. Die Luft war noch morgenfrisch, doch im hellen Sonnenlicht war die Hitze des Tages bereits zu erahnen.
Und da war noch etwas – eine schwache Feuchtigkeit, die mich erschaudern ließ.
»Wir reiten zum Aussichtspunkt, Mylady«, sagte Yuso. »Ein Kundschafter hat von etwas in Sethons Lager berichtet.« Er musterte mich eindringlich. »Es soll ein Dämon sein.«
Obwohl ich standhaft zu bleiben versuchte, schlug ich vor seinem prüfenden Blick die Augen nieder. »Ein Dämon?«
Endlich brach sich die Wahrheit Bahn mit der Kraft eines Bergrutsches. Ich blickte an Yuso vorbei auf eine nur wenige Schritte entfernte, fast kugelförmig kauernde Gestalt, einen Mann, der die Arme um den Kopf geschlungen hatte und dessen Rücken sich mit jedem rasselnden Atemzug hob und senkte. Seine kräftige Schulterlinie und das dunkle, zottige Haar ließen keine Verwechslung zu:
Es war Ido.
Ich drängte mich an Yuso vorbei und rannte auf das Drachenauge zu, als einer seiner Wächter ihn am Arm zog.
»Lasst ihn in Ruhe!« Der Wächter richtete sich auf.
»Ido?« Ich sank neben ihm auf die Knie. »Ido, schaut mich an.« Sein Kopf blieb gesenkt. »Tretet ein Stück zurück«, befahl ich den beiden Wächtern mit einer Handbewegung.
Vorsichtig berührte ich das dunkle Haar. Es war schweißnass. Endlich hob er den Kopf.
»Eona.« Seine gefesselten Hände ergriffen die meinen, und seine Haut war heiß und fiebernass. »Er ist gekommen. Spürt Ihr ihn?«
»Ja. Warum ist das so schlimm?«
»Er ist viel stärker, als ich dachte«, flüsterte er. »Er verwendet den Todesgesang aus dem Buch. Ich spüre den Tod überall um ihn herum.«
»Kann Sethon ihn aufhalten und ihm das Buch wegnehmen?«
»Ich denke nicht, dass jemand ihn aufhalten kann. Nicht einmal wir.«
»Aber das müssen wir«, erwiderte ich. »Er will Euch töten.«
Idos Griff wurde fester. »Er will uns beide töten.«
Seine Miene veränderte sich und ein warnender Ausdruck glitt über seine schmerzverzerrten Züge. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die beiden Wächter sich bis zum Boden verbeugten. Als ich auf den Knien herumfuhr, stand der Kaiser vor mir.
»Was ist los mit ihm?«, fragte Kygo und wies mit dem Kinn auf Ido. »Er sieht schlechter aus.«
Ich verbeugte mich, doch bevor ich antworten konnte, rappelte Ido sich auf. Seine ganze Anmut war verschwunden, weggewischt von den Schmerzen und von der Ungeschicklichheit seiner gefesselten Hände.
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte er.
Er senkte den Kopf, was fast aussah wie eine Verbeugung, und ging zu den Pferden. Es musste ihn ungeheure Anstrengung kosten, sich so zu bewegen, als plagten ihn keine furchtbaren Schmerzen. Ich bohrte die Finger in die Stirn, um mein Kopfweh zu lindern.
»Kommt, Naiso.« Kygo reichte mir die Hand und zog mich auf die Beine. »Ihr reitet hinter mir.«
Er würde sehr bald wissen, dass der Dämon Dillon war. War jetzt der Zeitpunkt, ihm alles zu erzählen? Wirklich sein Naiso zu sein? Wenn ich das täte, wäre die Liebe in seinen Augen für immer verschwunden, ersetzt durch Zorn und Verrat. Doch es musste sein. Ich wusste, es musste sein.
»Alles wird gut«, sagte er und zog meine Rechte an die Lippen.
Der zarte Kuss in meine Handfläche brachte meine Entschlossenheit ins Wanken. Es würde nicht gut werden, doch ich brachte es nicht über mich, es ihm zu sagen. Noch nicht.
Wir ritten in leichtem Galopp und ich bemerkte mein bohrendes
Weitere Kostenlose Bücher